Elektra. Theo Brohmer
Dreihundertfünfzig Euro später sah Frerichs dem Tesla hinterher, bis dieser hinter der Bismarck-Allee aus seinem Blickfeld entschwand.
Seine Knie zitterten mindestens ebenso stark, wie bei der hanseatischen Lady eben. Ächzend ließ er sich auf den Asphalt sinken. Er musste erst einmal verschnaufen. Sein wundes Fleisch schrie nicht mehr, es beschwerte sich flüsternd. Ob er wollte oder nicht, er würde heute noch zu Doc Bleeker müssen, dachte er betrübt. Ließ sich das noch in seinen prall gefüllten Terminkalender quetschen?
Mit den Unterarmen auf den Knien, die Hände in der Luft, saß er eine geschlagene halbe Stunde einfach so da. Niemand kam des Weges. Von ein paar Krähen und Dohlen einmal abgesehen. Sie ließen sich aus dem bleigrauen Himmel auf das Band der Bundesstraße fallen, hüpften herum und blickten interessiert zu ihm hinüber. Einen solch lustigen Menschen hatten sie scheinbar noch nie gesehen. Frerichs pfiff ihnen eine schräge Melodie zu, so wie er es manchmal bei seinen Hühnern tat. Die Rabenvögel reagierten genauso: Sie scherten sich nicht drum. Als seine innere Unruhe wieder zu ticken begann, erhob er sich mühsam.
»Diese vermaledeite Schwerkraft!«, schimpfte er. »Runter geht es immer! Aber rauf? Nur mit Schweiß, Schmerz …« Ein weiteres passendes Wort für diese Auszählung wollte ihm nicht einfallen und so ließ er seinen Satz unvollendet.
Los, auf die Füße, Frerichs!, trieb ihn seine innere Stimme zur Eile an. Du bist nicht auf Urlaub hier! Er hatte einen Job zu erledigen. Und die Bürger von Ölbenfehn kannten ihn als einen, der pünktlich lieferte. Auch wenn es sich lediglich um die Reklame handelte.
Er wuchtete seinen Körper wieder auf seine Maschine.
Behutsam rollte er vorwärts. Schon von Weitem, erkannte er den Kirchturm von St. Jakobus. Der goldene Wetterhahn an der Spitze des Giebels glänzte matt.
Auf dem kiesbestreuten Parkplatz stellte er seine C 1 unter den Linden ab, die wahrscheinlich schon zu Zeiten der Wikinger dagestanden hatten. Frerichs drückte die Tür aus dunklem Holz auf und betrat das Gotteshaus.
Dumpfe Kühle und der Geruch nach Schimmel und Moder wehten ihm entgegen. Im Dämmerlicht machte Frerichs die fünfzehn Bankreihen aus. Auf dem Altar brannten zwei Kerzen. Ihr Schein ließ die goldenen Verzierungen der biblischen Motive leuchten. Dennoch erfüllte Frerichs leichter Grusel. Den Geräuschen nach zu urteilen, hielt sich mindestens eine weitere Person in der Kirche auf.
Frerichs tauchte eine Hand in das steinerne Wasserbecken und betupfte sich die Stirn. Er war kein besonders gläubiger Mensch. Wenn seine Schwester Anna nicht wäre, würde er dem Gottesdienst regelmäßig fernbleiben. Doch mit der Tradition des sonntäglichen Gottesdienstes hatte er sich arrangiert. Für seine Schwester war diese Stunde fester Bestandteil ihres Lebens. Und weil auch Onno Frerichs dazu gehörte, vermied er jeden Streit und begleitete sie artig. Ihn erreichten die frommen Sprüche des Pfaffen nicht. Was er schätzte, war die Orgelmusik. Die hatte es ihm richtig angetan.
Als Frerichs das Bündel Geldscheine der reichen Hanseatin aus der Tasche zog, erklangen zarte Töne einer Toccata. Im Anschlag erkannte sein geübtes Ohr die Organistin Edda Beer. Das war leicht. St. Jakobus verfügte nur über eine einzige Organistin. Wenn sie krank war, fiel das Orgelspiel aus. So einfach lief das auf dem Lande. Edda Beer spielte ein Stück von Jan Pieterzoon Sweelinck.
Genauso wie Frerichs hatte sie eine Vorliebe für Sweelinck. Spielte sie die Toccata etwa um ihm eine Freude zu bereiten? War er entdeckt worden? Ein heißer Schreck durchfuhr ihn.
Rasch schickte er einen Blick zum Balkon hinauf. Doch die Organistin saß stets mit dem Rücken zur Gemeinde. Von dort, wo er stand, konnte er Edda nicht sehen. Und sie ihn genauso wenig.
Frerichs beruhigte sich wieder. Rasch ließ er seine Beute in die Tiefen des Klingelbeutels verschwinden. Eine kleine Weile lauschte er noch den Tönen der Orgelmusik. Dann stieß er sich von der Wand ab und verließ auf leisen Sohlen das Gotteshaus. Er trat wieder in den trüben Herbsttag hinaus und schloss leise die Tür.
Würde Haan, der Pastor, am Sonntag die großzügige Spende erwähnen? Das blieb abzuwarten. Frerichs freute sich schon ein wenig auf den nächsten Gottesdienst.
Ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass er gut eine Dreiviertelstunde hinter seinem Zeitplan zurücklag. Das galt es nun aufzuholen. Er startete seine Maschine und fuhr schneller als erlaubt, um seine Tour fortzusetzen. Frerichs hatte wenig Lust die verlorene Zeit anzuhängen. Das Spiel begann pünktlich.
Um Viertel nach acht wollte er auf dem Sofa sitzen. Ein anderer Ausklang des Abends kam für ihn nicht in Frage.
Er war noch nicht lange gefahren, da öffnete der Himmel seine Schleusen. Das feuchte Bombardement begann mit einigen fetten Tropfen. Diese netzten die Straße und klatschten auf das Dach seiner Maschine. Das liebte er an seiner C1. Es war das einzige Motorrad mit einem Dach und es enthob ihn der Notwendigkeit den lästigen Helm zu tragen. Denn diese ungemütlichen Dinger hasste er wie die Pest.
Rasch bog er in die Hofeinfahrt von Fokko Willms ein. Geschickt umrundete Frerichs die Dreckkuhlen auf dem Hof, ließ das Wohnhaus links liegen und fuhr am geparkten Fendt vorbei. Das Tor der Maschinenhalle stand offen. Frerichs nutzte den Schwung aus, ließ das Motorrad ausrollen und steuerte in das Innere der Halle. Keine Sekunde zu spät, wie sich herausstellte.
Als habe der Regen auf diesen Moment gewartet, ging die Show los. Der Regen prasselte auf den mit rotem Klinker gepflasterten Hof nieder. Rasch bildeten sich Pfützen und ohrenbetäubend laut war es auch.
Frerichs langte in die gelbe Tasche, fischte zwei Briefe heraus und rief in die dunkle Halle hinein. Denn um diese Zeit hatte Fokko nach Meinung seiner Frau, Freya im Haus nichts zu suchen. Weshalb er die Maschinenhalle dem Ritz vorzog.
Fokko tauchte hinter einem Schlepper auf. Er wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Mit breiten Schritten watschelte er in seinen grünen Gummistiefeln auf Onno zu.
Frerichs hielt die beiden Briefumschläge aufgefächert in der Hand.
»Al up steh?«, begrüßte Frerichs seinen alten Freund Fokko. Auf Willms’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
»Al god al!«, gab er zurück. Er sprach gedehnt, wie es in diesem Landstrich üblich war.
»Schön di zu sehn«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Als wollte er ihm ein Geheimnis verraten, winkte er ihn näher zu sich. Frerichs kam der Aufforderung gerne nach. Er konnte sich denken, was Willms ihm zeigen wollte.
In der Hand hielt der Landwirt eine ordentliche, aus drei Blatt Papier gedrehte Zigarette. Die Glut maß gut einen Zentimeter im Durchmesser. Zum Mundstück hin verjüngte sie sich konisch, wie bei einer Zigarre.
Frerichs lächelte dankbar bei ihrem Anblick. Mit Kennermiene nahm er die Tüte in die Hand, betrachtete das Werk von allen Seiten. Dann nickte er lobend.
»Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund. »Sieht gut aus, Fokko. Schmeckt er?« Er bedachte seinen Kumpel mit einem Blick. Dieser nickte auffordernd, gab ihm damit zu verstehen, eine Kostprobe zu nehmen. Frerichs folgte der Aufforderung und nahm einen tiefen Zug. Er behielt den Rauch für Sekunden in der Lunge und stieß ihn schließlich durch die Nasenlöcher wieder aus. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Die Augenlider fielen ihm zu. Als er sie wieder öffnete, war alle Anspannung von ihm abgefallen. Sogar die Schmerzen in den Handballen waren fort.
»Ich brauch’ nich’ zu fragen, ob dir die neue Ernte schmeckt, oder?«, erkundigte sich Fokko. Dabei fielen ihm die Verletzungen seines Freundes auf. Er erschrak. »Was is’ dir ’n passiert?«
»Bin dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen!«
Frerichs berichtete kurz, was sich zugetragen hatte. Mit jedem Zug ging es ihm besser. Er schüttelte breit grinsend den Kopf. »Das Kraut ist der Hammer!«
Das Lob tat Willms sichtlich gut. Er reckte die Brust und wirkte plötzlich größer.
»Frerichs, das is’ die beste Ernte, die ich jemals hatte. Die Qualität is’ echt der Hammer! Aber die Menge wird mich nicht durch den Winter bringen.« Seine