Elektra. Theo Brohmer

Elektra - Theo Brohmer


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ein paar Stunden Sonne in Aussicht gestellt. Wie so oft wunderte sich Frerichs, wie schnell seine Stimmung sich änderte, wenn die Sonne sich zeigte. In Abhängigkeit von Wärme und Helligkeit reagierte auch seine Psyche. Ihm wurde leichter ums Herz. Hoffnung keimte in ihm auf. Noch war alles möglich!

      Neben der Landstraße schlängelte sich der Fehnkanal in seinem Bett. Ein breiter Streifen glitzernden Wassers war gleichauf mit ihm. Frerichs verspürte Lust, mal wieder angeln zu gehen. Die Ruhe würde ihm sicherlich guttun, dachte er versonnen. Vielleicht würde es sich am Samstagnachmittag einrichten lassen?

      Die Reflexionen auf dem Wasser hatten etwas Beruhigendes. Ein paar Stunden stillen Angelns und er käme als frischerholter Mensch zurück. Früher war es oft so gewesen. Danach sehnte sich Frerichs plötzlich zurück. Mit einem Mal konnte er das Wochenende kaum mehr erwarten.

      Bewegungen auf der Straße vor ihm erregten seine Aufmerksamkeit. An einer Stelle tummelten sich schwarze Silhouetten. Beim Näherkommen erkannte er Krähen. Sie zerrten mit ihren Schnäbeln an etwas, das auf dem Asphalt klebte.

      Als er sich ihnen knatternd näherte, erhoben sie sich widerwillig. Manche hüpften ein paar Meter zur Seite. Andere flatterten aufgeregt in die Bäume hinauf.

      Das was da lag, mochte einmal eine Katze gewesen sein, jedenfalls der Größe nach. Die Fellzeichnung war schwarz-weiß. Schrödingers Katze fiel ihm dazu ein. War die nicht verschwunden?

      Frerichs hielt neben dem Kadaver. Über sich hörte er den vielstimmigen, krächzenden Chor. Er blickte zu den Vögeln hinauf.

      »Ihr könnt gleich weiter frühstücken«, rief er zu den Tieren hinauf. Er mochte die schwarzen Gesellen wegen ihrer Klugheit und Neugierde. Viele von ihnen besaßen mehr Grips als so mancher Mensch. Er warf noch einen schnellen Blick nach allen Seiten, dann fuhr er gemächlich weiter.

      Er war noch keine hundert Meter weitergefahren, als er es sah: neben der Straße. Der abgeknickte Pfahl. Das Warnschild vor dem Wildwechsel ragte in den grauen Himmel. Neben der Straße auf einer Höhe von etwa einem halben Meter war der Pfahl geknickt. Das dreieckige Straßenschild, das auf einen Wildwechsel hinwies, zeigte in den grauen Himmel.

      Sein Puls beschleunigte sich sofort. Hatte Anna also wieder einmal recht gehabt! Frerichs löste den Sicherheitsgurt, bockte den Roller auf, blickte sich nach den Bäumen um.

      Rechts von ihm stand in relativ großer Entfernung eine Schonung schlanker, noch junger Buchen. Die konnte Anna doch unmöglich gemeint haben. Das waren doch bestimmt an die zwanzig Meter!

      Frerichs hockte sich vor das beschädigte Verkehrsschild hin. Über den geknickten Pfahl hinweg visierte er das Wäldchen an. Kimme und Korn, genauso wie er es auf der Kirmes machte.

      Die Buchen waren größtenteils noch grün mit wenigen herbstlich bunten Sprenkeln. Er ächzte, als er sich erheben wollte.

      Frerichs blickte die Straße hinunter. Doch auf diese Entfernung waren Bremsspuren nicht zu entdecken. Er musste den Weg zurückgehen. Er ließ seine Maschine stehen und ging bis zu dem Kadaver zurück. Die ganze Zeit hielt er den Blick auf die Straße gesenkt. »Keine Bremsspuren?«, wunderte er sich. »Jungs, ihr kennt euch doch hier aus!« Er führte oft Selbstgespräche. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen. So fielen ihm oft erst dann Ungereimtheiten oder Logiklöcher auf. Onno führte sich die Situation bildlich vor Augen und plötzlich befand er sich mitten im Geschehen: Nachtschwärze hüllte alles ein. Ein Lichtkegel tauchte vor ihm auf. Der Ford Capri näherte sich ihm. Er trat instinktiv einen Schritt weiter auf die Straße. Frerichs blinzelte im blendenden Licht der Scheinwerfer, als der Capri auf ihn zugerast kam. Er machte sich bereit. Für einen Sekundenbruchteil sah er durch die Windschutzscheibe in die Gesichter der jungen Männer. Der Wagen hielt weiter auf ihn zu. Frerichs fühlte keine Angst, fand das alles doch nur in seiner Einbildung statt. Wie eine Zeitreise, die er in Gedanken machte. Er wollte verstehen, wie es zu dem Unfall gekommen war.

      Als der Capri durch Frerichs hindurch fuhr, sprang er behände in den Fond. In seiner Vorstellung saß er einen Moment später auf der Rückbank des Wagens und blickte nach vorne. Tjark saß am Steuer. Er trug ein grünes Hemd und hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.

      Die Muskeln in seinen Armen traten hervor und zeichneten sich deutlich unter dem Hemd ab. Der Mann verfügte über Bärenkräfte. Das wusste Frerichs. Und diese Kräfte waren auch nötig, um den Wagen in der Spur zu halten. Sein Blick streifte das Tachometer. Der Wagen war mit mehr als 170 km/h unterwegs.

      Loger auf dem Beifahrersitz, trug eine schwarze Lederjacke.

      Er hob eine Flasche an die Lippen, trank gierig. Nach einem lauten Rülpser reichte er die Flasche an seinem Kumpel Tjark weiter. Die Flasche hing nur Zentimeter vor Frerichs Gesicht. Und doch bereitete es ihm keine Mühe die Schrift auf dem Etikett zu entziffern.

      »Jungs!«, rief Frerichs angewidert. »Bourbon? Das Zeug ist doch widerlich!« Tjark löste eine Hand vom Lenkrad, grapschte nach der Flasche. Er wandte den Kopf seinem Freund Loger zu. Die Freunde sahen sich einen Augenblick lang an und riefen: »Das ist Sprit für unsere Nerven!«

      Tjark setzte die Flasche an die Lippen und ließ den Schnaps die Kehle hinablaufen. Nur eine Sekunde nahm er den Blick von der Fahrbahn. Doch das genügte. Im nächsten Moment krachte irgendetwas gegen den Wagen.

      Es knallte ordentlich. Tjark und Loger spürten es in den Schultern. Frerichs wurde nach vorne geschleudert. Das Ding, mit dem sie kollidiert waren, flog zur Seite weg. Der Wagen geriet ins Schleudern.

      Tjark lenkte gegen und fing den Ford geschickt ab. Der Wagen blieb in der Spur. Dennoch bewegte er sich nur Zentimeter neben der Böschung entlang.

      Mit jeder Sekunde nahm das Schild an Größe zu. Schließlich füllte es die ganze Windschutzscheibe aus.

      Frerichs bereitete sich innerlich auf den Zusammenstoß vor. Einen Moment später krachte der Wagen gegen den Pfahl, der daraufhin knickte. Die Reifen des Capri verloren den Kontakt mit der Straße. Mit wütendem Gebrüll antwortete der Motor. Dann hob der Wagen ab.

      Take-Off!, schoss es Frerichs durch den Kopf.

      Der Flug dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit. Als sich Frerichs schon zu fragen begann, ob sie die Erdanziehung des Planeten verlassen hatten, krachte etwas Massives gegen das Fahrzeug. Augenblicklich verformte sich die Fahrgastzelle, schrumpfte bedrohlich. Frerichs duckte sich und zog die Beine an den Körper. Doch das war unnötig, denn er saß nicht mehr im Wagen. Er hockte vor einer riesigen Buche, deren Stamm ihm die Sicht versperrte. Eine unglaubliche Traurigkeit legte sich plötzlich über sein Bewusstsein. Er fühlte sich unendlich müde. Plötzlich wusste er, dass er nicht in das Wäldchen gehen wollte. Er fürchtete sich richtiggehend vor dem Anblick, der sich ihm bieten würde. Doch er musste sich Gewissheit verschaffen.

      Aber, das hier war kein Wunschkonzert. Schließlich war er hier Sheriff! »Halt durch, Kumpel!«, sprach er sich selbst Mut zu. »Du brauchst sie nur zu finden, dann rufst du den Doc an!«

      Frerichs verließ die Landstraße. Langsam, auf jeden Schritt achtend, schritt er die Anhöhe hinab. Den Acker zu überqueren fiel ihm schwer. Grobe, aufgebrochene Schollen warteten auf ihn. Zweimal stolperte er, einmal fiel er sogar hin. Mühsam rappelte er sich wieder auf die Füße, rieb den Dreck von den verbundenen Händen und hielt weiter auf das Wäldchen zu. Frerichs schob alle Gedanken beiseite, konzentrierte sich nur auf die bevorstehende Aufgabe. Er würde es sein, der diesen Wagen fand. Würde das den Spöttern im Dorf das Maul stopfen? Oder würde es die Diskussion weiter anheizen? Frerichs war ein Mann, der sich einmischte, der hinguckte, wo andere wegsahen. Seine Zivilcourage war manchen im Dorf ein Dorn im Auge!

      »Bist du ein Mann? Oder eine Maus?« Die Antwort war einfach. Frerichs würde weiter seinen Weg gehen. Auch wenn er die ganze Welt gegen sich aufbringen würde. Frerichs gegen den Rest der Welt!

      Er betrat das Wäldchen. Die Richtung wiesen ihm die abgeknickten Äste und die Spur der Verwüstung.

      Welche unvorstellbare Kraft hatte den Wagen durch die Botanik geschoben!

      Dann fand er das Wrack!

      Von der einstmals


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