Elektra. Theo Brohmer

Elektra - Theo Brohmer


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man meinen können, das Auto wäre durch einen Sandsturm gefahren.

      Beim Anblick des Fahrzeugs musste Frerichs einen Kloß hinunterschlucken. Oh, Gott, nein! Er schloss für einen Augenblick die Augenlider, sog die Luft tief in die Lungen. Er zögerte eine volle Minute. Dann erst öffnete er sie wieder.

      »Attacke!«, murmelte er und blickte in das Innere des Oldtimers. Das hätte er besser gelassen. Der Anblick war grauenhaft. Frerichs taumelte rückwärts, wie von einem Boxhieb in den Magen getroffen. Er fiel in die Laubstreu, robbte ein Stück vom Wrack weg. Am Ende seiner Kräfte blieb er vor einem grauen Baumstamm liegen. Seine Eingeweide krampften sich zusammen und Frerichs hielt nichts zurück. Er übergab sich. Er blieb liegen, auch nachdem nichts mehr kam.

      Mit geschlossenen Augen döste er vor sich hin. Dann, als er glaubte, einigermaßen wieder bei Kräften zu sein, drehte er sich langsam auf den Rücken. Er lehnte sich an einen kühlen Buchenstamm. Bedächtig sog er Luft ein, konzentrierte sich einfach nur auf seinen Atem. Mehr war erst einmal nicht nötig.

      Seine Augenlider flatterten. Als wögen sie Tonnen, versuchte er, sie anzuheben. Vergeblich. Momente später versuchte Frerichs es erneut. Dieses Mal glückte es. Für eine Sekunde blieben sie offen. Als eine Orange in seinem Blickfeld zu tanzen begann, drehte sich ihm augenblicklich der Magen wieder um. Würgend drehte er sich auf die Seite. Sein Magen krampfte. Doch längst enthielt sein Verdauungsapparat nichts mehr, was er von sich geben konnte.

      Frerichs war noch klar genug im Kopf, um, die Abwehrreaktion seines Körpers auf die Eindrücke im Wrack zu erkennen. Alles in ihm sträubte sich, einen zweiten Blick hineinzuwerfen. Das brauchte er auch nicht. Die Bilder hatten sich längst in seine Gehirnwindungen gebrannt. Eine Unterscheidung der beiden Körper war unmöglich. Die Identifikation konnte nur noch durch zahnärztliche Befunde oder DNA erfolgen. Da bestand für Frerichs überhaupt kein Zweifel.

      Als er sich stark genug fühlte und das Zittern seines Kiefers aufgehört hatte, fummelte er sein Mobiltelefon aus einer Beintasche. Er suchte nach der Telefonnummer des einzigen ortsansässigen Allgemeinmediziners. Doch seine Finger zitterten so sehr, dass ihm das Telefon entglitt und in der losen Laubstreu verschwand. Frerichs bückte sich. Er fand es jedoch nicht sofort.

      Seinem flauen Magen zum Trotz, zischte er einen derben Fluch. Er hockte sich hin und tastete nach dem Telefon. Schließlich stieß er mit dem Knie daran. Er hob das Gerät auf, suchte weiter nach der Nummer und drückte das grüne Hörersymbol. Nichts! Er saß offenbar in einem Funkloch. Vielleicht war es an der Straße besser? Er hielt sich an Zweigen und Ästen fest, um nicht das Gleich­gewicht zu verlieren.

      Bedächtig schlurfte er über das Feld. Auf die Minute kam es nun auch nicht mehr an. Dieses Mal kam er nicht ins Straucheln und erreichte unbeschadet die Anhöhe. Doch es dauerte, aber wen interessierte das?

      Auf der Straße angekommen, musste Frerichs erst einmal verschnaufen. Er stützte die Hände auf die Knie und beugte sich nach vorne über die Fahrbahn. Augenblicklich stellten sich die Bilder der Leichen wieder ein. Sie bedrängten ihn und ließen wieder seinen Magen antworten. Gallensaft stieg ihm die Speiseröhre hoch.

      Frerichs machte sich nicht die Mühe diesen hinunter zu zwingen, sondern spie ihn auf die Straße. Er nestelte ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über den Mund.

      Frerichs überlegte, ob er eine Flasche Wasser dabeihatte, und ging zu seiner Maschine zurück. Dabei warf er einen Blick auf sein Mobiltelefon. Einen Balken zeigte das Display an. Es war einen Versuch wert. Er scrollte durch das Menü und fand die Nummer des Doc. Als der Anruf erledigt war, fand er eine halbe Flasche schalen Wassers in der Seitentasche. Nicht einmal der Geschmack der Plörre störte Frerichs. Mit dem Wasser spülte er sich den Mund aus. Dann wartete er.

      Der weiße Opel Insignia von Dr. Martin Bleeker stoppte eine Viertelstunde später vor seiner Maschine. Bleeker war ein gut gebauter, etwas korpulenter Endvierziger, mit rundem, freundlich wirkendem Gesicht.

      Frerichs kannte Bleeker seit dieser vor fünf oder sechs Jahren von Hamburg hergezogen war. Der Doc war ­damals nah dran gewesen, den Job an den Nagel zu hängen. Er nahm nie das Wort ›Burnout‹ in den Mund. Aber so nannte man das heutzutage. Entschleunigung war das, was Bleeker heute brauchte und in Ölbenfehn fand. Er arbeitete noch immer. Wenn auch bei Weitem viel weniger als früher. Bei einem Bier hatte Bleeker Frerichs einmal anvertraut, dass er erst hier in Ölbenfehn gemerkt hatte, was es hieß, glücklich zu sein. Geld bedeute ihm heute weniger, als noch vor ein paar Jahren.

      Bleeker warf die Autotür zu. Er schüttelte sich und schlug demonstrativ den Kragen seiner Regenjacke hoch. Sein freundliches Gesicht zeigte grimmige Entschlossenheit. In seinem Blick erkannte Frerichs Ärger. Ohne Gruß kam der Mediziner sofort zur Sache: »Okay, Frerichs, spuck’s aus. Was hast du?«

      Statt einer Antwort rieb sich Frerichs den Bauch. Sein flauer Magen hatte sich noch immer nicht beruhigt.

      Bleeker sah Frerichs unbewegt in die Augen. Doc war mit der Gabe gesegnet, sich voll und ganz auf eine Sache konzentrieren zu können.

      »Du hast da noch was«, sagte Bleeker und deutete auf Frerichs Mund. »Hast du gekotzt? Und was hast du überhaupt mit deinen Händen gemacht? Motorradunfall?«

      Frerichs nickte matt. »Weißt doch, dass ich kein Blut sehen kann!«

      »Wo kannst du kein Blut sehen?«, erkundigte sich der Arzt.

      Frerichs wies mit dem Daumen hinter sich. Bleeker hob den Kopf, blickte über Frerichs Schulter. »Im Wäldchen?«

      Frerichs nickte dumpf. »Ich habe die Jungs gefunden!« Seine Stimme klang merkwürdig hohl.

      Bleeker schenkte ihm ein Stirnrunzeln. »Meinst du den Coordes und seinen Kumpel?« Frerichs wusste, was der Doc dachte. Doch Bleeker tat ihm nicht den Gefallen, zu fragen, wie Onno auf die Idee gekommen war, im Wäldchen zu suchen. Gut. Dann mache ich das später, wenn mich jemand fragt. Frerichs nickte knapp.

      Bleeker setzte sich eilig in Bewegung. Er holte seine Arzttasche aus dem Auto und kehrte wenig später zurück.

      »Sag mal, hast du eine Kamera dabei, Doc?« Frerichs hatte sich nicht getraut, Fotos mit seinem Handy zu machen. Das hätte bedeutet, sich wieder dem Wrack zu nähern und sich mit dem Inhalt zu beschäftigen.

      »Habe ich immer dabei«, antwortete Bleeker großspurig. Unvermittelt hielt der Arzt in der Bewegung inne. »Hast du schon die Polizei gerufen?«, erkundigte er sich.

      Darüber hatte Frerichs noch nicht nachgedacht. Für eine Obduktion besaß Ölbenfehn weder das Personal noch die Ausrüstung. Er bezweifelte, dass Bleeker sich dazu in der Lage sah. Er war Allgemeinmediziner. Kein Gerichtsmediziner.

      »Sieh dir die beiden an. Die Bilder kriege ich nie wieder aus dem Schädel.«

      Er blieb in gebührendem Abstand stehen, beobachtete Bleeker einfach. Frerichs bewunderte den Mediziner im Stillen für seinen Mut, sich dem Anblick freiwillig auszusetzen.

      Bleeker stellte sich vor die Windschutzscheibe und warf einen Blick hinein. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Sein Beruf hatte ihm schon manches Schlimme gezeigt.

      Er ging um den Wagen herum, blickte durch alle Fenster. Dann begann er, Fotos zu machen.

      Als Frerichs einen Blick auf das Gesicht des Doktors erhaschte, erwiderte Bleeker seinen Blick. Er fluchte mit einem grimmigen Zug um den Mund.

      Frerichs kam sich feige dabei vor. Wie ertrug Bleeker diesen Schlachterhorror?

      Bleeker nickte: »Polizei, SpuSi, Gerichtsmedizin, keine Frage. Eine Obduktion ist Pflicht.«

      Der Doc schürzte die Lippen. »Ich verständige die Kollegen aus Wittmund.« Frerichs blickte ihm nach, wie er zur Straße zurückging, um von dort zu telefonieren. Er selbst blieb im Wäldchen. In ausreichender Entfernung zum zerstörten Capri lehnte er sich gegen einen Baum. Er wollte keine Spuren vernichten. Frerichs wusste, dass das großen Ärger bedeuten würde.

      Er hielt den Blick vom Unfallwagen abgewandt. Auch wenn er der Meinung war, dass die Toten nicht allein sein sollten,


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