Elektra. Theo Brohmer

Elektra - Theo Brohmer


Скачать книгу
Pilzfarm, hatte er Buchen- und Birkenstämme aufgeschichtet. Tatsächlich gediehen hier Baumpilze wie etwa Shiitake und Pom-Pom-Blanc. Er freute sich über ihre Größe und sehnte die nächste Ernte herbei. Für ein Pilz-Omlett morgen früh würde es schon reichen.

      Frerichs verschwand unter die Dusche. Vor dem Essen schlüpfte er gerne in seinen bequemen Kapuzenpullover und seine Hausjeans. Das waren Hosen, die nicht mehr gut genug waren, um sie außerhalb des Hauses zu tragen, weil sie Löcher oder ausgefranste Nähte aufwiesen. Grundsätzlich traf Anna die Entscheidung, welche Jeans in den Rang einer Hausjeans abstieg.

      Punkt sieben ging er zu Anna hinüber. Es war der köstliche Duft von Bratkartoffeln in geschmorten Zwiebeln, der ihm in die Nase stieg, als er die Küchentür aufschob. Frerichs lief das Wasser im Mund zusammen. Anna stand am Herd, wandte ihm den Rücken zu. Noch bevor sie auch nur ein Wort an ihn richtete, wusste Frerichs, dass etwas in der Luft lag. Irgendetwas war passiert! Nur was?

      »Stellst du bitte noch die Essiggurken auf den Tisch?«, bat Anna. Frerichs öffnete die Tür der Speisekammer und wählte eines der Gläser aus, nahm eine Schüssel und füllte einige Gürkchen in eine Schale.

      »’n Avend, Anna. Alles in Ordnung?«

      Ihre Stimme klang belegt. »Loger und Tjark sind verschwunden! Feye Coordes hat heute Morgen angerufen. Die beiden Jungen sind am Sonntag nicht von ihrem Discothek-Besuch heimgekommen. Feye macht sich fürchterliche Sorgen!«

      Frerichs kannte Loger Doolmann und Tjark Coordes aus den Gesprächen mit seiner Schwester. Die Jungen waren beide achtzehn.

      »Waren die Jungs mit dem gelben Capri unterwegs?«

      »Orange«, widersprach Anna.

      »Wat?« Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch das dünner werdende Haar. Anna hob die Augenbrauen. Ihr strenger Blick bohrte sich in seinen. Eine Sekunde blieb die Strenge. Dann wich sie und hinterließ Traurigkeit, unendlich viel Traurigkeit. Anna fühlte mit Feye. Die ganze Ungewissheit lastete auf ihr. Und das war noch nicht alles.

      »Der Ford ist orange«, sagte sie mit Nachdruck.

      Frerichs nickte grimmig. »Richtig.« Mit Farben hatte er es nicht so.

      Mit seiner nächsten Frage ließ er sich Zeit. Sie zu stellen war heikel. Eine Weile aßen sie schweigend. Frerichs hoffte, Anna würde es selbst ansprechen. Doch der Blick seiner Schwester heftete sich auf das Muster der Tischdecke. Irgendetwas faszinierte sie offenbar daran.

      Als Frerichs die Zeit für gekommen hielt, räusperte er sich umständlich. Er tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab.

      »Hast du schon die Karten befragt?«

      Anna schien die Frage erwartet zu haben. Ohne das geringste Zögern schüttelte sie sachte den Kopf. Die Bewegung war so schwach und sprach buchstäblich Bände. Blanke Kraftlosigkeit erkannte Frerichs daraus.

      »Ich traue es mich nicht.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

      »Mhm«, machte Frerichs. Er wusste genau, was sie damit meinte. Hoffnung war ein starker Motor. Hoffnung konnte alle Zweifel fortjagen, jede Traurigkeit dahin fegen. Doch genau aus diesem Grund zögerte Anna. Sie mochte glauben, hoffen. Doch das Schicksal war manchmal unerbittlich. Gott hat einen harten linken Haken. Das wussten sie beide.

      Als das Abendessen vorüber war, erhob sich Anna. Einen Moment lang schwankte sie, so als trügen ihre Beine sie nicht mehr. Frerichs sprang hastig auf. Er bekam ihren Arm zu packen und stützte sie.

      »Setz dich wieder. Ich spüle das Geschirr«, sagte Frerichs. Seine Schwester war bleich geworden. Aus ihrem Gesicht war alles Blut gewichen. Es wirkte wie eine kalkweiße Maske. Frerichs sammelte das Geschirr ein, trug es zur Spüle und ließ heißes Wasser ein. So wie das gemeinsame Essen längst zur Tradition geworden war, gehörte auch das anschließende Aufräumen und Abspülen dazu. Eine gute Gelegenheit, sich über die Dinge zu unterhielten, die sie am Tag erlebt hatten.

      Doch heute kam ihm seine Schwester zuvor.

      »Lass nur«, sagte Anna. »Du kommst noch zu spät zum Spiel.«

      Das Spiel! Es durchfuhr ihn regelrecht. Dexel noch to! Das habe ich ja ganz vergessen!

      Anna bog den Rücken durch. »Es geht schon wieder«, fuhr sie fort und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie war genauso dürr wie Frerichs, übertraf ihn an Größe sogar um wenige Zentimeter.

      »Lass mich bitte allein«, bat sie ihren Bruder. »Ich wünsche dir einen schönen Abend. Auf dass St. Pauli gewinnt.«

      »Wirst du zurechtkommen?«, erkundigte er sich besorgt. Anna musste sich schon sehr sorgen, wenn ihr das sogar auf den Kreislauf schlug. Sie nickte matt.

      Frerichs ging in seinen Wohntrakt hinüber. Im Wohnzimmer machte er Licht und schaltete den Fernseher ein. Aus dem Kühlschrank, der in der Stollenwand eingebaut war, holte er ein Fläschchen Bier und setzte sich in seinen Sessel. Gerade liefen die Spieler ein. Just in time! Perfekt!

      In der Halbzeitpause stopfte er sich seine Pfeife. Dazu mischte er ein wenig des Harzes aus seinem Taschentuch unter den Tabak. Seine spezielle Hausmischung, wie er sie gerne nannte. Mit seiner Pfeife ging er auf die Terrasse hinaus und zündete den Tabak mit einem Streichholz an. Süßlich-herber Rauch entstieg dem Pfeifenkopf. Frerichs blickte in den sternenklaren Himmel hinauf. Diese Momente der Freiheit genoss er, wann immer sich Zeit dafür fand. Die kleinen Freuden sind doch die Besten!

      Er würde Fokko morgen etwas von seinem Harz bringen, dachte er versonnen. Sein Stoff war auch nicht schlecht!

      Schon fühlte der hagere Mann, wie seine Gedanken leichter wurden. Die Trübsal wich und machte heiterer Gelassenheit Platz. Bestimmt sorgte sich Anna grundlos um Tjark und Loger. Junge Leute halt. Sie dachten nicht darüber nach, dass ihr Handeln rücksichtslos und egoistisch war. Sie lebten ihr Leben.

      Die Jungen

      Mittwoch, 07. Oktober 2015

      Am nächsten Morgen wehte ein stürmischer Wind. Frerichs zog die Schirmmütze tiefer in die Stirn, stemmte sich kräftig gegen die Tür. Der Wind hielt seinen Druck stand. Frerichs musste sich mächtig anstrengen, um zu gewinnen. Als es geschafft war, trat er hinaus auf den Hof.

      Anna winkte ihm zum Abschied. Ihre Augen wirkten verquollen. Er bemühte sich, über die feuchten Rinnsale in ihrem Gesicht hinweg zu sehen.

      Er hob die Hand, startete seine Maschine und rollte vom Hof. Wieder hingen dunkle Regenwolken am Himmel.

      Doch auch Sonnenschein hätte heute seine trübe Stimmung nicht vertreiben können. Eine schwierige Aufgabe lag vor ihm.

      »Halte nach einem abgeknickten Schild Ausschau.« Annas Worte begleiteten ihn, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.

      Frerichs fuhr zur Poststation von Ölbenfehn. Er schloss die Tür zur Amtsstube auf. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Rasch schaltete er alle Lichter an. Mit einem gutvernehmlichen Klicken sprangen die Neonröhren an und verbreiteten ein unangenehmes aber helles Licht. Frerichs kniff die Augen zusammen und ging in die winzige Teeküche, wo er die Kaffeemaschine in Gang setzte. Während sie gluckerte, fuhr Frerichs den alten Computer hoch.

      Jeden Tag überprüfte er zuerst die Emails, sah sich die Anrufliste an; doch sie war leer. Das war nicht ungewöhnlich. Dafür hatte das Faxgerät ein Blatt Papier ausgespuckt. Es stammte von der Polizei aus Wittmund. Die Suchmeldung nach Loger Doormann und Tjark Coordes, den beiden Verschwundenen. Waren sie also doch nicht nach Hause gekommen!

      Himmel! Lass sie noch am Leben sein, dachte Frerichs und schickte ein Stoßgebet zum Allmächtigen hinauf. Frerichs erledigte noch ein paar Telefonate und schaffte lästigen Papierkram fort. Bürokratischer Müll, weg damit!

      Gegen zehn packte er seine Posttasche und fuhr los.

      Nach Ochterfehn, um die längst überfällige Abgassonderuntersuchung durchführen zu lassen. Der hiesigen Werkstatt vertraute er seine Maschine ungern an. Die Mechaniker kifften ihm einfach zu viel!

      Frerichs lenkte


Скачать книгу