Wir sind die Flut. Annette Mierswa
du klingst wie eine durchgeknallte Verschwörungstheoretikerin, die unter Drogen steht. Komm schon. Bis das Wasser wirklich so hoch steigt, haben wir längst tolle neue Erfindungen gemacht, die Hamburgs Untergang aufhalten werden.«
»Weißt du, was, du gigantischer Tranbeutel, du redest wie mein Vater.«
»Ich nehme das mal als Kompliment.« Leon lächelte und seine strahlend blauen Augen glänzten wie kleine Wahrsagekugeln, in denen die Zukunft rosiger nicht aussehen könnte. Und das beruhigte mich tatsächlich. Es war der erste Moment seit der Meldung am Vortag, in dem ich frei atmen konnte und die bleierne Düsternis in mir ein wenig an Gewicht verlor. Wenn ich an Leons Seite war und in diese hellen Augen blickte, konnte mir überhaupt nichts passieren.
Das hatte ich zum ersten Mal gefühlt, als wir sieben gewesen waren. Ich hatte damals dichte schwarze Locken und sah mit meiner roten Schleife im Haar aus wie das Disney-Schneewittchen, als Leon und ich beschlossen abzuhauen. Wir hatten uns zuvor im Schrank versteckt und meine Eltern belauscht, um nicht zu verpassen, wie sie auf unsere Nachricht reagieren würden, die wir auf dem Tisch platziert hatten: ein gezeichneter Koffer, aus dem Quimpi, mein Stoffhund, und Schlumpi, Leons Filzlöwe mit den Märchenwollhaaren, rausguckten. So sollte es zumindest aussehen. Und daneben in krakeliger Schrift: Sint weck nach Panama. Wir hatten uns vorgestellt, dass meine Eltern heulend zusammenbrechen und wir dann aus dem Schrank springen würden, um sie wieder glücklich zu machen. Eine Art Denkzettel sollte das werden, weil sie mich am Morgen fürchterlich angeschrien hatten für etwas, das sie doch eigentlich fröhlich machen sollte.
Leon hatte bei mir übernachtet wie so oft. Wir waren sehr früh aufgewacht und in die Küche geschlichen, um meine Eltern mit einem Kuchen zu überraschen. Was leider schrecklich schiefging. Anstatt Mehl hatte ich Papas teure Flohsamenschalen erwischt und noch dazu war der Boden voller Eiermatsche. Aber hey? War das wirklich so schlimm?
Das mit dem Denkzettel war dann komplett nach hinten losgegangen. Sie hatten sich über unsere Nachricht kaputtgelacht und dann hatte Papa sich auch noch über die falsch geschriebenen Worte ausgelassen. Dabei waren wir sieben! Wir saßen Hand in Hand im dunklen Schrank. Als sie lachten, hörte ich Leon lauter atmen. Wir blieben einfach so sitzen, bis meine Eltern das Zimmer wieder verließen, ohne irgendetwas zu unternehmen. Jetzt machen wir’s, flüsterte Leon. Und dann packten wir tatsächlich unsere Rucksäcke und marschierten los. Bis zur Boberger Düne kamen wir. Leon nahm mich wieder an die Hand und ich fühlte mich sicher. Es war einfach klar: An seiner Hand konnte mir nichts passieren. Das war ein unglaublich tolles Gefühl.
Und während uns die Polizei wenig später bei meinen Eltern ablieferte, ließ er mich nicht einmal dann los, als Mama mich umarmte und dabei weinte wie verrückt. Ich war mir damals sicher gewesen, dass ich Leon niemals verlieren würde. Er war mein Fels in der Brandung, mein bester Freund, mein Ein und Alles.
Jetzt waren meine schwarzen Haare lang und glatt und die rote Schleife bloß noch eine lustige Erinnerung. Wie Schneewittchen sah ich auch nicht mehr aus. Wohl eher wie eine molligere Pocahontas, wobei mollig übertrieben war. Aber Pocahontas! Himmel. Die brach ja fast durch in der Mitte. Meinen Stoffhund Quimpi hatte Poppy abgelöst. Und Leons Löwe Schlumpi war bei unserem Abenteuer verloren gegangen. Das eigentliche Drama des Tages. Dafür bekam er ein LEGO StarWars-Set mit Anakin Skywalker, den er immer in seiner Hosentasche mit sich herumtrug und jedem stolz unter die Nase hielt. Was ziemlich nervte. Doch diese Verbundenheit zwischen uns, dieses Gefühl, irgendwie zusammenzugehören, war geblieben.
Seit ein paar Monaten war da aber etwas Neues, Verwirrendes …. Auf einmal hatte ich Angst, ihn zu verlieren, und wog meine Worte ab, was ich zuvor nie getan hatte. Ich dehnte plötzlich unser Begrüßungsritual aus, um ihn länger berühren zu können. Und wenn ich in diese blauen Wahrsagekugeln blickte, dann wurde mein Herz von einer warmen Welle geflutet. Und das war eine Welle, in der ich gerne untergehen wollte.
4
Hurra, die Welt geht unter donnerte über den Schulhof. Auf der hellen Betonwand des Schulgebäudes brandeten aufgepeitschte Wellen, die ein Beamer aus einem Baum heraus darauf projizierte. Auf den breiteren Ästen saßen Schüler, verkleidet als Froschmänner und -frauen. Sie hatten Flossen an, trugen Taucherbrillen und grölten den Songtext in den frühen Morgen. Am Fuß des Baumes standen zwei Lehrer und reckten ihre Hälse in die Höhe, während überall auf dem Schulhof verstreut Schüler wie tot auf der Erde, beziehungsweise dem Meeresgrund, lagen – ertrunken.
Ich erkannte Fidor, Mayas großen Bruder, der eine Bademütze trug und aus dem Baum heraus laut den Refrain skandierte.
»Wir brauchen EUCH.« Ein blasses Mädchen mit schillernden Plastikschuppen auf ihrem T-Shirt gab Leon und mir Flyer. Sie klang sirenenhaft. Ein weiteres Paillettenmädchen pustete Seifenblasen in die Morgenluft. Ich las: Du hast keine Zeit mehr, also nutze sie. Komm in unsere Aktionsgruppe zur Rettung der Welt. Sei cool und lass dich nicht kaltstellen. Lieber überleben, statt Vorzeit-Bio lernen. Darunter ein Wal mit Flügeln. Lass uns das Unmögliche möglich machen!, stand auf seinem Bauch.
»Genial!«, rief ich dem Mädchen zu.
»Ihr beide könnt sofort mitmachen.« Das Paillettenmädchen zeigte auf die Toten, die nach Luft japsend auf dem Schulhof verendet waren.
»Komm!«, schrie ich Leon zu und zerrte ihn hinter mir her zum Unterwasserfriedhof.
»Nee, das ist mir echt zu blöd.«
»Was? Ist doch eine coole Aktion.« Ich ließ mich zwischen zwei Ertrinkende sinken und zog Leon herunter, der sich murrend neben mich setzte. »Es geht um alles, schon vergessen?«
»Ava, das ist doch nicht dein Ernst!« Er stand auf und blickte sich um. »Gibt’s hier irgendwo eine versteckte Kamera? Ich glaub’s echt nicht.«
Frau Liebscher lief über den Schulhof.
»Hey, die haben wir jetzt. Komm!« Er zog an meiner Hand.
»Nein. Das hier ist wichtiger!« Ich riss mich los.
»Okay, dann geh ich allein.« Und schon war er verschwunden.
Ich spürte den kühlen Boden unter mir. Die Musik wogte über mich hinweg, die Wellen mit ihren Silberkämmen schäumten über die Schulwand. Ich blickte in die Baumkronen, sah den blauen Himmel hindurchschimmern, einen Vogel, der seine Kreise drehte. Ein paar Seifenblasen in Regenbogenfarben. Meine Welt, dachte ich. Meine berauschend schöne Welt. Eine tiefe Traurigkeit überschwemmte mich und nährte einen Schluchzer, der meine Seele flutete wie der steigende Meeresspiegel. Es durfte einfach nicht sein.
»Kommst du nachher zum Planungstreffen bei Alice?« Ein Mädchen neben mir schob die Taucherbrille hoch. Ihre Augen waren so bernsteinfarben wie ihre Haut und die kleinen Perlen in ihren Dreadlocks. Sie hatte nicht nur Flossen an den Füßen, sondern auch an den Händen. Eine reichte sie mir. »Yoda.«
Ich schüttelte eine Flosse und grinste. »Bist du so weise, oder was?«
»Klar. Kommen du musst.« Sie wackelte mit den Flossen, die sie sich neben den Kopf hielt wie übergroße Ohren. Ich lachte und der Schluchzer löste sich auf wie Wachs in der Sonne.
»Ich komme natürlich, Ehrensache.«
Yoda nahm eine Flosse ab und legte mir etwas in die geöffnete Hand. Eine kleine Muschel, rau und betongrau. Dann ließ sie sich zurücksinken und regte sich nicht mehr. Ich schloss meine Hand um die Muschel und blickte wieder in die Baumkrone. Plötzlich war da eine kleine Hoffnung. Ein Zeichen. Ein Anfang gegen das Ende. Ein Wegweiser. Yoda mit den Bernsteinaugen.
5
Als ich den Klassenraum betrat, war Frau Liebscher schon dabei, ihre Sachen einzupacken.
»Ah, Ava, schön, dass du auch noch kommst. Bei der nächsten Aktion reichst du bitte vorher eine Entschuldigung ein.« Ein paar Mitschüler kicherten. Frau Liebscher kramte in ihrer Tasche, zog eine Karte heraus und reichte sie mir. »Wir haben gerade Referatsthemen zur Klimawoche verteilt. Das hier ist übrig.« Ich blickte auf die Karte.