Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten. Jens Kleinert

Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten - Jens Kleinert


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      Mit dem vorliegenden Buch wollen wir den aktuellen Stand zum Thema Sportsucht aufbereiten. Dies betrifft insbesondere begriffliche Fragen (z. B. Definitionen; image Kap. 2), aber auch Fragen der Häufigkeit des Auftretens (image Kap. 3). Weiterhin werden typische Felder für das Auftreten von Sportsucht (z. B. Ausdauersport, Fitnesssport) sowie Zusammenhänge mit anderen Störungsbildern (z. B. Essstörungen, Muskeldysmorphie) erläutert (image Kap. 4). Nach einer Darstellung von pathogenetischen Modellen und Entstehungsbedingungen (image Kap. 5) werden abschließend diagnostische (image Kap. 6) und präventive sowie therapeutische Ansätze (image Kap. 7) besprochen.

      Dieses Buch soll aber auch verdeutlichen, in welcher Form sich Sportsucht oder suchtartiges Bewegungsverhalten von einer gesunden, für die persönliche Entwicklung positiven Bewegungs- und Sportaktivität unterscheidet. Denn unter dem Strich bleiben Sport und Bewegung etwas, was entscheidende und positive Effekte für die psychische Gesundheit (Biddle und Asare 2011), für die Therapie und Rehabilitation körperlicher Erkrankungen (Rost 2005) und auch im Falle von psychischen Erkrankungen (Hölter 2011) hat.

      Bestimmungsmerkmale und Kriterien der Sportsucht

      Jens Kleinert

      In mindestens dreierlei Hinsicht ist die Definition der Sportsucht schwierig. Erstens ist es – wie auch bei anderen Verhaltenssüchten – schwer einzuschätzen, ab wann Sporttreiben tatsächlich als eine Sucht im krankhaften Sinne bezeichnet werden kann. Zweitens sind die Erscheinungsformen und Ausprägungen so vielfältig und unterschiedlich, dass es problematisch erscheint, die bzw. eine Sportsucht zu beschreiben. Und drittens ist auffälliges Sport- und Bewegungsverhalten in den meisten Fällen eng verbunden mit anderen psychischen Auffälligkeiten oder Störungen, weshalb es häufig nicht einfach ist, Sportsucht von anderen psychischen Erkrankungen klar abzugrenzen.

      Das vorliegende Kapitel fokussiert insbesondere die erste Herausforderung, nämlich die Frage, ab wann Sportreiben oder körperliche Aktivität suchtartige Züge annehmen oder sogar als krankhaftes Verhalten bezeichnet werden müssen. Zur Beantwortung dieser Frage werden neben der vorliegenden Sportsucht-Literatur auch die grundsätzlichen Kriterien von Sucht und Abhängigkeit verwendet, wenn auch die Übertragung dieser Kriterien auf die Sportsucht mit Vorsicht vorgenommen werden muss.

      2.1 Bestimmungsmerkmale der Sportsucht

      Bereits die Vielzahl von Begrifflichkeiten, mit denen die Sportsucht umschrieben wird, zeigt die Uneindeutigkeit in ihrer Darstellung. Während im deutschsprachigen Raum zumeist von Sportsucht (»exercise addiction«) gesprochen wird, findet sich in der internationalen Literatur häufig auch der Begriff der Sportabhängigkeit (»exercise dependence«). Andere Umschreibungen bringen weitere Akzente ein, zum Beispiel die Zwanghaftigkeit des Verhaltens (»compulsive exercise«) oder die Verbindung mit Essstörungen (»running anorectics«). Schließlich zeigen frühere Wortschöpfungen, dass im Bereich des Laufsports die Anfänge der Sportsuchtforschung lagen (»obligatory runners«, »running addiction«). Im vorliegenden Buch werden wir der Einfachheit halber in der Regel den Begriff der Sportsucht verwenden, der alle Formen der bewegungsbezogenen Abhängigkeit miteinschließen soll. An Stellen, an denen der Begriff sehr weit gefasst gemeint ist, wird allgemeiner von »problematischem Sporttreiben« gesprochen.

      2.1.1 Exzessives Sporttreiben

      Das auf den ersten Blick zentrale Merkmal der Sportsucht ist sicherlich die Sport- und Bewegungsaktivität selbst. Daher ist ein auffallend hohes Ausmaß an körperlicher Aktivität trotz aller Schwierigkeiten, Sportsucht zu definieren, ein wichtiges Merkmal. Diese auch als »exzessives Sporttreiben« bezeichnete Auffälligkeit ist jedoch keinesfalls ausreichend, um Sportsucht im Sinne einer krankhaften Störung zu definieren. Der Sportumfang alleine ist somit kein hinreichendes wissenschaftliches oder klinisches Kriterium, was auch daran deutlich wird, dass hohe Sportumfänge im Leistungssport gang und gebe sind. So beschreiben Tucker und Collins (2012), dass zum Beispiel 1000 Trainingsstunden pro Jahr im Hochleistungsbereich vieler Sportarten eher die Regel als die Ausnahme sind. Solche wöchentlichen Trainingsumfänge von 20 oder mehr Stunden lassen sich sicherlich nicht abgrenzen vom Sportumfang eines Sportsüchtigen. Aufgrund dieser schweren Einschätzbarkeit exzessiver Sportaktivität als gut oder schlecht bzw. gesund oder krank wurde in der Vergangenheit grundsätzlich diskutiert, ob stark ausgeprägtes Sport- und Bewegungsverhalten problematisch ist oder behandelt werden muss. In diesen Diskussionen wurde auch häufig von einer »positiven« Sucht (»positive addiction«) gesprochen (Carmack und Martens 1979; Glasser 1976; De La Torre 1995), da ja umfangreicher Sport grundsätzlich auch zu positiven Konsequenzen führen kann (z. B. körperliche oder psychische Gesundheit). Der Begriff »positive Sucht« ist jedoch aus theoretischer und klinischer Sicht unangemessen, da bei einer Sucht laut Definition grundsätzlich die negativen Umstände die denkbaren positiven Aspekte des Verhaltens deutlich übersteigen. Mit dieser Lesart unterscheidet sich der wissenschaftliche Suchtbegriff von der manchmal im Alltag üblichen Art und Weise, das Wort »süchtig« zu verwenden (nämlich für etwas, was man besonders gern oder häufig macht).

      Exzessives Sportreiben ist im Sinne der Sportsucht als maßloses Sporttreiben zu verstehen. Maßlos heißt hier, »dies in einer übersteigerten, übertriebenen oder ausufernden Form –letztlich also in ungewöhnlichem Umfang – zu tun; exzessiv bedeutet aber auch, Sport und Bewegung zügellos und unersättlich zu treiben, das heißt Grenzen sowie Zweck- oder Sinnbezüge zu missachten« (Kleinert et al. 2013). Es geht also bei der Beurteilung von »exzessiv« nicht oder weniger um die Einschätzung der Quantität, sondern vielmehr um die Einschätzung der Funktionalität und Sinnhaftigkeit. Daher sind hohe Sportumfänge im Leistungssport im Rahmen der beruflichen Sportkarriere als funktional (d. h. zweckmäßig) und meist auch sinnvoll einzustufen. Die Aspekte der Funktionalität und Sinnhaftigkeit berühren darüber hinaus die Frage des Kontrollverlustes, der als ein Grundkriterium von Verhaltenssüchten weiter unten (image Kap. 2) besprochen wird.

      Auch in der Sportsuchtforschung finden sich Hinweise darauf, dass der bloße Umfang von Sport sich kaum als Kriterium für Sportsucht eignet (Bamber et al. 2003). So fanden Davis et al. (1993) heraus, dass zwischen Sportumfang und anderen Suchtsymptomen nur geringe Zusammenhänge bestehen. Andersherum stellt sich die Frage, ob eine Sportsucht auch bei einem geringen Umfang von Sport bzw. körperlicher Aktivität denkbar ist. Auch wenn hierzu bislang keine abschließende Antwort vorliegt, kann angenommen werden, dass (sehr) niedrige Sportumfänge das Vorliegen einer Sportsucht ausschließen (siehe aber besondere Aspekte des zwanghaften Sporttreibens bei Essstörungen, image Kap. 4.3). Die Erfassung von Sportumfängen könnte daher meist zwar als Ausschlusskriterium dienen, aber kaum als hinreichendes Kriterium für Sportsucht.

      2.1.2 Maladaptivität

      Neben


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