Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten. Jens Kleinert
Sport stehen. Hierbei spielen zum Beispiel organisatorische Aufwände für die Planung und Vorbereitung des Sporttreibens eine Rolle. Solche Aufwände betreffen den »sportfreien« Alltag, insbesondere die Trainingsplanung, Trainingskontrolle oder die Beschaffung von Sportausrüstungen oder Hintergrundinformationen. Durch diese Aktivitäten übernimmt der Sport die Vorherrschaft im Alltag der Patienten (Bamber et al. 2000; Bamber et al. 2003) und verdrängt andere wichtige Aspekte und Lebensbereiche.
Ein wichtiger Lebensbereich, der hiervon betroffen ist, ist das Ernährungsverhalten. Ernährung und Essen sind nicht nur bei der sekundären Sportsucht relevant (in Form einer vorliegenden Essstörung), sondern betreffen vermutlich alle Sportsüchtigen. Der Grund hierfür liegt in der engen Verbindung von Ernährung und Sport, die bereits bei unauffällig Sporttreibenden zu beobachten ist (Beschäftigung mit Vitaminen/Spurenelementen, Eiweißen [insbes. Kraftsportarten] oder Kohlenhydraten [Ausdauersportarten]). Darüber hinaus sollte angemessene Ernährung insbesondere bei intensiver Sportaktivität gut organisiert sein. Vermutlich ist diese Organisation im Falle eines gestörten Sportverhaltens ebenfalls beeinträchtigt, was zu einer unangemessenen Fixierung auf Ernährung und in der Folge auch zu hohen diesbezüglichen Aufwänden führen kann (bis hin zur Einnahme illegaler Substanzen). Denkbar ist sogar, dass derartige Entwicklungen dazu führen, dass sich sekundäre Essstörungen ausbilden.
2.2.6 Soziale Vernachlässigung und Konflikt
Soziale Vernachlässigung und Konflikt beschreibt die Beobachtung, dass angesichts des Vorherrschens der Sport- und Bewegungsaktivität wichtige soziale oder berufliche Aktivitäten und Lebensbereiche in den Hintergrund treten (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Diese Vernachlässigung des sonstigen Lebens ist besonders bedeutsam im familiären oder partnerschaftlichen Umfeld; allerdings sind auch Ausbildung, Beruf und die Freizeitaktivitäten hiervon in typischer Weise betroffen.
Der Konflikt tritt sowohl intrapsychisch als auch zwischenmenschlich (interpersonal) in Erscheinung. Der intrapsychische Konflikt äußert sich dadurch, dass die Betroffenen das Zurückdrängen der anderen Lebensbereiche bewusst wahrnehmen und ein innerer Kampf zwischen konkurrierenden Bedürfnissen und Wünschen stattfindet. In diesem Kampf unterliegen zumeist die sozialen Bedürfnisse zu Gunsten der suchtgebundenen Motive. Der zwischenmenschliche Konflikt äußert sich in Streitigkeiten mit dem Partner, der Familie oder dem Freundeskreis (Veale 1995; Grüsser-Sinopoli et al. 2006), die dadurch entstehen, dass die sozialen Bezugspersonen wahrnehmen, zurückgewiesen zu werden und entsprechend mehr Zeit und Raum einfordern. Darüber hinaus entstehen berufliche Konflikte dadurch, dass sportbedingt Aufmerksamkeit und Engagement sinken können, was zu nachlassenden Leistungen bzw. Fehlern führt.
2.2.7 Maladaptive Kontinuität
Von maladaptiver Kontinuität kann gesprochen werden, wenn das Sport- und Bewegungsverhalten auch dann noch ausgeführt wird, wenn negative psychische und/oder körperliche Konsequenzen bereits bestehen oder sich verstärken bzw. auftreten können. In körperlicher Hinsicht wird dies besonders deutlich beim Thema Verletzungen und Beschwerden. Die Betroffenen trainieren trotz Verletzungen und Beschwerden weiter, was dadurch erklärt wird, dass diese bagatellisiert oder sogar ignoriert werden (Adams und Kirkby 1998). Selbst von ärztlicher Seite strikt empfohlene Zwangspausen werden nicht eingehalten und missachtet (Adams und Kirkby 1998). Hiermit verbunden ist die Unterschätzung von Erholungs- und Regenerationsphasen. Hierdurch bedingt kann es neben orthopädischen Problemen auch zu Beschwerden der inneren Organe bis hin zu Erkrankungen infolge eines geschwächten Immunsystems kommen. Da in schweren Fällen solche Probleme entweder ignoriert oder nicht genügend auskuriert werden, sind massive Gefährdungen der Gesundheit denkbar.
In das zuvor beschriebene Symptomfeld gehört auch das Thema Schmerzmittel. Durch Schmerzmittel oder entzündungshemmende Mittel (insbesondere nichtsteroidale Analgetika, Kortikoide bis hin zu Antibiotika) werden Beschwerden bekämpft, was in zweifacher Hinsicht problematisch ist. Zum einen werden auf diese Weise wichtige, warnende Schmerzsignale ausgeschaltet, was die Überforderung verstärkt. Zum zweiten geht der Substanzkonsum selbst mit teils drastischen Nebenwirkungen einher, die eine zusätzliche gesundheitliche Gefährdung darstellen.
2.3 Bedeutung von Suchtkriterien für die Sportsucht
Die Bedeutung der verschiedenen Suchtkriterien (
Es bleibt aber unklar, ob Festlegungen für Verhaltenssüchte im Allgemeinen auch für die Sportsucht gelten können. Diesbezüglich wurde in diesem Abschnitt beispielsweise das Kriterium Toleranzentwicklung kritisch diskutiert. Auch bleibt unklar, ob es unter den genannten Kriterien solche erster Ordnung (also besonders bedeutsame) gibt, die im Vergleich zu anderen Kriterien eine stärkere Berücksichtigung im Rahmen der Diagnose besitzen sollten (
3
Epidemiologie der Sportsucht
Jens Kleinert
Die schlechte Nachricht zuerst: Zahlen zur Häufigkeit bzw. Auftretenswahrscheinlichkeit (Prävalenz) der Sportsucht sind bis heute kaum verlässlich. Hierfür lassen sich zwei Hauptgründe feststellen, die insbesondere in der Vorgehensweise der Forschung begründet sind: Erstens ist die Art und Weise, wie Sportsucht erfasst bzw. gemessen wird, problematisch. Eine Seite des Problems ist hierbei, dass uneinheitlich gemessen wird, also mit unterschiedlichen Fragebögen oder anderen Methoden. Die andere Seite des Problems ist, dass die verwendeten Messmethoden die Sportsucht nicht verlässlich genug, also nicht genau oder eindeutig genug, erfassen. Kurz: Aus dem Ergebnis eines Fragebogens oder einer anderen Methode lässt sich das Vorliegen einer Sportsucht nicht eindeutig ableiten. Der zweite Hauptgrund für die unklaren Befunde der Epidemiologie liegt in den Untersuchungsgruppen, in denen die Häufigkeit von Sportsucht bislang überprüft wurde. Diese Gruppen sind nicht repräsentativ für Sporttreibende oder für die Gesamtbevölkerung; stattdessen wurden in den Untersuchungen zumeist sehr spezifische Sportarten untersucht, weswegen sich die Ergebnisse nur bedingt auf andere Sportarten und natürlich auch nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragen lassen. Beide Gründe, also das Problem der uneinheitlichen und ungenauen Messung sowie das Problem der selektiven und wenig repräsentativen Untersuchungsgruppen, werden in diesem Kapitel behandelt.
Eine weitere Schwierigkeit in der Erfassung von Sportsucht besteht darin, dass Verhaltenssüchte