Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten. Jens Kleinert

Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten - Jens Kleinert


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Verhalten grundsätzlich eine gewisse Normalität beinhaltet: Essen, Einkaufen, Sporttreiben sind normale menschliche Verhaltensweisen, weswegen normale und krankhafte Ausprägungen bei Sportsucht oder anderen Verhaltenssüchten eng beieinander liegen (Egorov und Szabo 2013) und daher Übergänge zwischen gesund und krank fließend sein können und zudem vom Kontext (z. B. Leistungs- oder Freizeitsport) abhängen. Diese Verschmelzung erschwert die Abgrenzung von gesund und krank.

      Trotz der geschilderten Probleme lohnt es sich, die Forschungslage zur Epidemiologie von Sportsucht aufzuarbeiten. Zwar zeigt die Forschung noch kein abschließendes, epidemiologisches Bild, allerdings können im vorliegenden Kapitel zwei Ziele erreicht werden. Erstens hilft die Beschreibung der Problemlage im Zusammenhang mit der Betrachtung von Prävalenzen dabei, Forschungslücken und hiermit notwendige, zukünftige wissenschaftliche Arbeiten abzuleiten. Und zweitens hilft das Zusammentragen der bestehenden Datenlage ein erstes, wenn auch vorläufiges und nicht allgemeingültiges oder in allen Fällen übertragbares Bild über die Auftretenswahrscheinlichkeit von Sportsucht zu erstellen.

      3.1 Zur Methodik im Rahmen der Epidemiologie der Sportsucht

      Die Epidemiologie der Sportsucht wird in der Literatur nicht als eigenständige Zielstellung von Forschung verfolgt. Stattdessen sind Zahlen zum Ausmaß und zur Häufigkeit eher Nebenaspekte anderer Forschungsziele, zum Beispiel der Erforschung von Risikofaktoren oder Konsequenzen von Sportsucht. Zugleich wird hiermit an Messinstrumente zur Erfassung von Sportsucht kein strenger klinischer Standard angelegt. Dieser Standard scheint aus Sicht vieler Forscher/innen nicht notwendig, da es für die in den Forschungsarbeiten befragten einzelnen Sportler/innen keine (therapeutischen) Konsequenzen hat, wenn sie fälschlich als sportsüchtig oder als unauffällig bzw. gesund bezeichnet werden. Bedeutsam ist lediglich die Verlässlichkeit des Gesamtwertes (nicht der einzelnen fallbezogenen Aussage). Im Gegensatz dazu erfordert die klinische Praxis (image Kap. 5.3) auch im Einzelfall eine genauere und möglichst verlässliche Messung von Sportsucht (d. h. eine »Diagnostik«), aus der mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine therapeutische Konsequenz erwächst. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass Fragebögen zur Sport- und Bewegungssucht vor allem für Forschungszwecke entwickelt wurden. Sie genügen daher häufig zwar den Kriterien guter Forschung (z. B. bezüglich der theoretischen Herleitung der Fragebogenstruktur oder der einzelnen Aussagen/Fragen des Bogens oder der Konsistenz bzw. Reliabilität von Unterkategorien), jedoch nicht den Kriterien guter klinischer Praxis. Insbesondere besitzen sie keine klinisch verlässlichen Cut-Off-Werte, also Werte, ab denen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Einzelfall eine klinisch behandlungsbedürftige Sportsucht angenommen werden kann (Sensitivität des Tests; image Kap. 6.1). Stattdessen lassen die Fragebögen nur eine Risikoabwägung zu. So ergibt sich beispielsweise für die »Exercise Dependence Scale« (EDS; Hausenblas und Symons Downs 2002b) anhand der Auswertung eine dreistufige Kategorisierung in »at risk for exercise dependence«, »nondependend-symptomatic« und »nondependend-asymptomatic« (für den deutschen EDS-D s. Zeeck et al. 2013).

      Die zuvor beschriebene fehlende klinische Verlässlichkeit von bestehenden Messinstrumenten liegt zum Teil auch daran, dass Kriterien für Sportsucht nicht eindeutig definiert sind (Terry et al. 2004) und in verschiedenen Fragebögen durch unterschiedliche Fragen oder Aussagen umgesetzt werden. So ist bis heute unklar, ob Kriterien, die für Verhaltenssüchte typisch sind, in gleicher Weise auch auf die Sportsucht zutreffen. Ein Beispiel hierfür ist das Kriterium von Zwangserleben oder Entzug: Zwang wird in manchen Fragebögen zur Sportsucht operationalisiert, indem gefragt wird, ob man mehr Sport treibt, als man sich vorgenommen hatte. Bei Kenntnis des Leistungssports erweist sich dies nur sehr bedingt als gute Frage für einen behandlungsbedürftigen Zwang (Symons Downs et al. 2004). Ein weiteres Beispiel: Bezogen auf Entzugssymptome fragen einzelne Sportsuchtinstrumente, ob man Sport treibt, um sich weniger gereizt oder angespannt zu fühlen (Symons Downs et al. 2004). Wenn dies ein Kriterium für Sportsucht wäre, würden viele Gesundheitssportler Entzugssymptome besitzen. Auch aufgrund solcher problematischen Ansätze, Sportsucht zu erfassen, werden positive Zusammenhänge zwischen gesundheitsbezogenen (und positiv zu bewertenden) Sportmotiven und einer auf diese Art gemessenen »Sportsucht« gefunden und kritisch diskutiert, »denn in manchen Aspekten überschneiden sich die erfragten Symptome von Sportsucht mit Verhaltensweisen, die sich zwangsläufig aus intensivem sportlichen Training ergeben« (Zeeck et al. 2013, S. 104). Entsprechend dieser Problematik müssen insbesondere Fragebögen zur (vermeintlichen) Erfassung von Sportsucht mit kritischer Distanz beurteilt werden (image Kap. 5.1).

      3.2 Prävalenz der Sportsucht bei Sporttreibenden

      Die geschilderten Probleme der eindeutigen Diagnostik von Sportsucht und der Ableitung von epidemiologischen Daten müssen nicht zwingend dazu führen, dass Forschungsdaten zur Häufigkeit von Sportsucht nicht berücksichtigt werden können. Stattdessen ist es wichtiger, diese Informationen richtig einzuordnen. Entsprechend empfehlen die Entwickler derartiger Forschungsfragebögen selbst, die Ergebnisse eher als symptomatische Hinweise oder Risikoeinschätzungen und nicht als Diagnosen zu bewerten (Hausenblas und Symons Downs 2002b; Terry et al. 2004). Ein weiteres, ermutigendes Indiz für die Verwendbarkeit der Daten ist auch, dass die Daten aus unterschiedlichen Instrumenten zu vergleichbaren Ergebnissen führen (Egorov und Szabo 2013). Es kann also davon ausgegangen werden, dass Hinweise zur Häufigkeit und zum Auftreten von Sportsucht, die mit den bestehenden Instrumenten erbracht wurden, zumindest eine gute Schätzung darstellen (Sussman et al. 2011b). Trotz dieser Güte bleibt die fehlende Eignung vieler Instrumente für eine abschließende Einzeldiagnostik bestehen (image Kap. 6.2).

      Die gute Schätzung der epidemiologischen Situation aus Forschungsdaten gilt vor allem für die zwei bekanntesten Fragebogeninstrumente, nämlich die »Exercise Dependence Scale« (EDS; Hausenblas und Symons Downs 2002b; deutsch: Zeeck et al. 2013) und das »Exercise Addiction Inventory« (EAI; Terry et al. 2004; deutsch: Ziemainz et al. 2013). Beide Instrumente sind hinsichtlich wichtiger Gütekriterien (z. B. Sensitivität, Reliabilität) ähnlich (Mónok et al. 2012; image Kap. 6.1.1). In der Übersichtsarbeit von Egorov und Szabo (2013) werden 23 Studien aufgeführt, von denen sechs Studien den EDS und fünf Studien den EAI verwendet haben. In diesen 23 Studien wurden ausschließlich Sporttreibende befragt. Die Häufigkeiten von auffälligen Werten (d. h. stark erhöhtes Risiko für Sportsucht) unterscheidet sich zwischen den aufgeführten Studien sehr stark und rangiert zwischen 1,8 % und 77 % (Median 8,25 %; image Abb. 3.1). Andere Übersichtsarbeiten bestätigen diese großen Streuungen und Unterschiede (Landolfi 2013).

      Zwischen den beiden Hauptinstrumenten (EDS, EAI) zeigten sich in der Übersichtsarbeit von Egorov und Szabo (2013) keine bedeutsamen Unterschiede: Studien, die den EDS verwendeten, schwanken zumeist zwischen 1,8 % und 6,6 % (ein Ausreißer mit 50 %), während Studien unter Verwendung des EAI zwischen 1,8 % und 8,5 % schwanken (zwei Ausreißer mit 19,9 % und 29,6 %). Auffallend ist, dass von den elf Studien, die andere Fragebögen verwendeten, nur vier unter 10 % lagen (Mittel = 26 %). Dies könnte darauf hinweisen, dass Studien mit anderen Fragebögen als dem EDS oder dem EAI die Häufigkeit von Sportsucht (deutlich) überschätzen.

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