Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten. Jens Kleinert
und Kirkby 2002; Allegre et al. 2006; Hausenblas und Symons Downs 2002a) konstant geblieben (
Tab. 2.1: Gegenüberstellung üblicherweise genannter Sportsuchtkriterien (linke Spalte; z. B. Hausenblas und Symons Downs 2002a) und Abhängigkeitskriterien nach DSM-5 (mittlere Spalte).
Anmerkungen: Nach Hausenblas und Symons Downs (2002a) muss bei Vorliegen von drei oder mehr der in der linken Spalte genannten Kriterien eine Sportsucht angenommen werden; in der Neufassung des DSM-5 wird eine Einteilung der Symptomatik in »mild« (2–3 Kriterien), »moderat« (4–5 Kriterien) und »schwer« (mindestens 6 Kriterien) vorgenommen.
2.2.1 Toleranzentwicklung
Im Zusammenhang mit Sportsucht wird Toleranzentwicklung damit beschrieben, dass ein zunehmender Umfang an Sport notwendig wird, um gewünschte Effekte zu erreichen oder dass bei gleichbleibendem Umfang Effekte niedriger ausfallen (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Der hiermit beschriebene suchtrelevante Mechanismus der »Toleranzentwicklung« ist jedoch bezogen auf den Sport ein normaler Prozess der Leistungsentwicklung. Mit anderen Worten: Ohne eine stetige Steigerung von Trainingsumfängen ist im Sport (insbesondere im Wettkampf- und Leistungssport) eine Steigerung von konditionellen Komponenten (z. B. Kraft, Ausdauerleistung, Beweglichkeit) oder von technisch-taktischen Kompetenzen nicht möglich. Die Steigerung von Trainingsumfängen und/oder Trainingsintensitäten ist daher in normaler und notwendiger Prozess, um neue Trainingsreize zu schaffen und hierdurch Anpassungsprozesse auszulösen (Hottenrott und Neumann 2017). Das Kriterium »Toleranzentwicklung« besitzt daher im Falle der Sportsucht einen zweifelhaften, doppeldeutigen Wert.
Allerdings wäre das Suchtkriterium »Toleranzentwicklung« dann angebracht, wenn der Effekt einer Dosissteigerung (mehr oder intensiverer Sport) nicht an einem Trainings- oder Leistungsziel ausgerichtet ist, sondern auf die Affektregulation (d. h. die Regulation von Spannungszuständen oder einer emotionalen Balance). Das bedeutet, eine suchtrelevante Toleranzentwicklung besteht nur dann, wenn Intensitäten und Umfänge ausschließlich aus Gründen der Psychoregulation gesteigert werden. Toleranzentwicklung dürfte demnach nicht allein an der Steigerung des zeitlichen Aufwands für Sport gemessen werden, sondern an der hiermit verbunden Zwecksetzung.
Unter Berücksichtigung des Zusatzkriteriums »Zwecksetzung« können jedoch Veränderungen von Sportumfängen durchaus wichtige Anzeichen für ein problematisches, vielleicht klinisch relevantes Verhalten sein. Allerdings müssen solche Beobachtungen fachgerecht (d. h. sportwissenschaftlich) interpretiert werden und in den psychosozialen Gesamtkontext des Betroffenen eingeordnet werden. Die fachgerechte Beurteilung betrifft gleichermaßen die Trainingssituation (z. B. extreme muskuläre Veränderungen bei exzessivem Bodybuilding oder extreme Verlängerung von Laufstrecken) als auch die hiermit verknüpften Einstellungs- und Motivstrukturen der Betroffenen (vgl. Bamber et al. 2003).
2.2.2 Entzugssymptome
Entzugssymptome werden in allen Übersichtsarbeiten zur Sportsucht als wichtiges Kriterium beschrieben (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Sie treten üblicherweise in sportfreien Intervallen auf (z. B. nach 1–2 Tagen; Sachs und Pargman 1984). Formen von Entzugssymptomen sind psychischer Natur (z. B. Unruhe), körperlicher Art (z. B. Veränderung des Ruhepulses) und können auch das Verhalten betreffen (z. B. vermehrte Aggressivität).
Im Vordergrund und für den Betroffenen am meisten belastend sind psychische Entzugssymptome. Die Patienten fühlen sich ruhelos, angespannt, gereizt, nervös, erschöpft oder ängstlich. Neben diesen affektiv-emotionalen Symptomen sind auch Aufmerksamkeitsprobleme oder Konzentrationsschwäche (d. h. kognitive Symptome) denkbar, aber angesichts der fehlenden Nennung in der Literatur offensichtlich selten.
In körperlicher Hinsicht werden im Zusammenhang mit Sportsucht ein erhöhter Hautwiderstand, Anzeichen muskulärer Erschöpfung oder Magen-Darm-Störungen berichtet (Pierce 1994). Auch Schlafstörungen treten bei Sportentzug auf, vermutlich als Zeichen einer neurovegetativen Störung (vgl. Grüsser-Sinopoli et al. 2006). Besonders sollte beachtet werden, wenn Sport primär dazu eingesetzt wird, Entzugssymptome zu lindern (d. h. relief craving), da in diesen Fällen eine Sportsucht besonders naheliegt, denn: Je stärker Entzugssymptome und Toleranzentwicklung ausgeprägt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass dem Verhalten (auch) eine körperliche Abhängigkeit zu Grunde liegt (Hausenblas und Symons Downs 2002a), was den Suchtprozess intensiviert. Grundsätzlich sollten bei starken körperlichen Symptomen Alternativerklärungen differentialdignostisch abgeklärt werden (
2.2.3 Non-Intentionalität
Nach Hausenblas und Symons Downs (2002a) umschreiben »intention effects« die Tatsache, dass die Betroffenen länger, umfangreicher oder intensiver Sport treiben, als sie dies eigentlich beabsichtigten (d. h. »intendierten«). Offensichtlich fehlt Sportsüchtigen die Fähigkeit, ihr Verhalten willentlich zu steuern (Freimuth et al. 2011). Oder anders: Die Steuerung des Verhaltens ist stattdessen gefühlsbetont (»Affektregulation«). Ziel dieser Verhaltenssteuerung ist es somit, positiven Affekt zu erlangen (reward craving), also zum Beispiel eine euphorisierende Wirkung zu erreichen (was häufig mit subjektiv »Kick« oder »Adrenalinschub« bezeichnet wird). Um derartige Gefühle zu erlangen, können die Aktivitäten weit über das hinausgehen, was eigentlich geplant war. Ebenso gefühlsbetont und ähnlich non-intentional ist es, wenn die Betroffenen durch die körperliche Aktivität negative Affekte (bzw. Entzugssymptome) lindern (s. oben »relief craving«) oder das Auftreten von negativem Affekt »prophylaktisch« verhindern wollen.
2.2.4 Kontrollverlust
Kontrollverlust beschreibt den starken Wunsch oder die erfolgslosen Versuche, den Umfang oder die Intensität des Sporttreibens zu reduzieren (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Erfolglose Versuche, Sport oder Bewegung einzugrenzen, können darin bestehen, dass Sportabstinenz gar nicht oder nur für kurze Zeit bzw. innerhalb eines gewissen Zeitraums möglich war. Bislang liegen keine ausreichenden oder konsistenten Erfahrungen darüber vor, wie sehr Kontrollverlust bei Sportsüchtigen ausgeprägt ist und wie relevant dieses Kriterium bei der Beurteilung von Sportsucht ist. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass das Sporttreiben bei Sportsüchtigen nicht als Kontrollverlust, sondern als Kontrollgewinn erlebt wird, da durch die körperliche Aktivität ein Gefühl der Kontrolle über den eigenen Körper erlebt und angestrebt wird (s. hierzu auch Hinweise zum Kontrollverlust im Kapitel 4.3 zu Essstörungen).
2.2.5 Aufwand
In der Sportsuchtliteratur wird das Thema Aufwand zumeist mit dem Zeitumfang in Verbindung gebracht, den Sportsüchtige mit sportlichen Aktivitäten verbringen (Hausenblas und Symons Downs 2002a). In Bezug auf das Sporttreiben selbst ist bereits weiter oben beschrieben worden, dass hohe Umfänge der Sport- und Bewegungsaktivität kein hinreichendes Kriterium für Sportsucht sind (
Im Rahmen der Diskussion um Zeitaufwände wird allerdings vernachlässigt,