Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten. Jens Kleinert

Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten - Jens Kleinert


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größer als der Einfluss des benutzten Fragebogens ist vermutlich die Wahl der befragten Gruppe. Je nachdem, welche Sportart, welche Population oder welcher Aktivitätssektor befragt wird, unterscheidet sich die gemessene Häufigkeit zum Zeitpunkt der Befragung (Punktprävalenz) starkt. Dies wird anhand der Daten in der Übersichtsarbeit von Egorov und Szabo (2013) deutlich: Wenn in den Studien (Sport-)Studierende befragt wurden (sieben Studien), ergab sich eine mittlere Häufigkeit von 6 % auffälligen Personen (3–15 %), bei Fitnesssportlern (ebenfalls sieben Studien) ergab sich eine mittlere Häufigkeit von 23 % (2–41 %) auffälligen Datensätzen und bei Befragung von Läufern oder Triathleten (auch sieben Studien) ergaben sich im Mittel in 35 % (3–77 %) der Fälle auffällige Daten. Wenn diese Daten auch vorerst einen beschreibenden (und keinen metaanalytischen) Charakter haben, so wird doch der große Unterschied zwischen den Prävalenzen der verschiedenen Befragungsgruppen deutlich. Zugleich scheint sich die häufige Annahme zu bestätigen, dass bestimmte Sportarten (z. B. Ausdauersport) ein höheres Risikoprofil beinhalten als andere. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass auch im Fitnesssport nicht selten eine Zwangsorientierung und hiermit verbunden ein gewisses Abhängigkeitspotenzial vorliegt. Trotz allem fallen auch innerhalb dieser unterschiedlichen drei Populationen die extrem hohen Streuungen auf, was darauf verweisen könnte, dass weitere Kriterien (z. B. Leistungsstärke, Erhebungsinstrument) eine bedeutsame Rolle für die Prävalenz spielen. Diese unterschiedlichen Einflusskriterien auf die Prävalenz wurden jedoch bislang nicht systematisch untersucht. Das heißt, es liegen keine repräsentativen und vor allem metaanalytischen Arbeiten vor, in denen die naheliegenden Faktoren Alter, Geschlecht, Leistungsstärke, Sportart, Untersuchungsmethode systematisch in Bezug auf ihren statistischen Einfluss auf die Prävalenzrate untersucht wurden.

      Die Schätzungen und Vermutungen vieler Forscherinnen und Forscher sind jedoch bislang nicht widerlegt und können weiterhin angenommen werden. Im Sport insgesamt kann von (niedrig) einstelligen Prävalenzen für ein hohes Sportsuchtrisiko ausgegangen werden (mit starken Streuungen zwischen Sportarten) (Hausenblas und Symons Downs 2002a; Griffiths et al. 2005). Auch im deutschsprachigen Raum lassen sich diese Zahlen bestätigen (Zeeck et al. 2013; Ziemainz et al. 2013).

      3.3 Prävalenz der Sportsucht in der Gesamtbevölkerung

      Im Vergleich zu den geschilderten Zahlen ist bezogen auf die Gesamtbevölkerung naturgemäß von deutlich geringeren Prävalenzraten auszugehen (Szabo 2000; Terry et al. 2004; Veale 1995). Allerdings sind Studien, in denen das Merkmal Sportsucht in der Gesamtbevölkerung erfasst wird, sehr selten. Einerseits scheint dies nachvollziehbar, da Sportsucht nur bei zumindest regelmäßiger Sportaktivität ein sinnvolles Krankheitsmerkmal ist. Andererseits würden Studien in der Gesamtbevölkerung erfassen, wie hoch das Risiko bei jeglicher Form von Sportaktivität ist (im Unterschied zu den stark selektiven Stichproben der meisten bestehenden Untersuchungen). Auch die Lebenszeitprävalenz ließe sich nur durch Studien in der Gesamtbevölkerung erheben (erfasst werden in den Studien überwiegend Punktprävalenzen).

      Eine der wenigen repräsentativen Studien in dieser Richtung wurde an der ungarischen Bevölkerung durchgeführt. Mónok et al. (2012) untersuchten einen Datensatz von 3183 Ungarn zwischen 18 and 64 Jahren. Von diesen äußerten 474 (also 14,9 %), zumindest einmal pro Woche regelmäßig sportaktiv zu sein. In dieser Studie zeigte sich je nach Befragungsinstrument ein Anteil von 1,9 % auffälliger Daten (bei Verwendung des EDS) bzw. 3,2 % auffälliger Personen (Verwendung des EAI). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ergibt dies eine (Risiko-)Prävalenz von 0,3 % bzw. 0,5 %. Diese Zahlen zeigen einerseits, dass die Rate an auffälligen Sporttreibenden insgesamt vermutlich eher an der Untergrenze der vorliegenden Angaben in bestehenden Studien liegt (image Abb. 3.1), oder anders: die Studien berücksichtigen vermutlich überwiegend Problemgruppen, die eine höhere Risikoprävalenz besitzen. Andererseits erscheint eine Prävalenz von 2–3 % relativ hoch, was allerdings stark relativiert werden muss, denn diese Prävalenz bezeichnet, wie zuvor diskutiert, lediglich das Risiko, nicht aber das Vorliegen einer Sportsucht. Je nach Spezifität und Sensitivität der Fragebögen (also je nach Umfang falsch-positiver Werte; image Kap. 6.1) liegt die tatsächliche Prävalenz vermutlich deutlich niedriger. Entsprechend zeigten Müller et al. (2014), dass sich nur jeder zweite Verdacht auf eine Sportsucht (erfasst anhand des deutschsprachigen EDS) mittels eines diagnostischen Interviews bestätigen lässt.

      3.4 Primäre und sekundäre Sportsucht

      Die bislang diskutierten Zahlen zur Prävalenz der Sportsucht unterscheiden nicht zwischen primärer und sekundärer Sportsucht. Eine solche Unterscheidung (die auch bei anderen Suchtformen vorgenommen wird) ist nicht nur aus ätiologischer, sondern auch aus epidemiologischer Sicht bedeutsam. Von sekundärer Sportsucht wird gesprochen, wenn sich das auffällige Sport- und Bewegungsverhalten erst in Folge oder als Begleiterscheinung einer anderen klinischen Störung ergibt (wie z. B. Essstörungen, Körperbildstörungen oder der Zwangsstörung; Brewerton et al. 1995, Davis und Kaptein 2006, Gulker et al. 2001, Kleinert 2014). Im Rahmen solcher Störungsbilder wird von den Betroffenen Sport und Bewegung häufig instrumentalisiert, um entweder mit der Grundstörung zurecht zu kommen (d. h. zur Kompensation) oder die Grundstörung ausleben zu können (d. h. zur Realisation; image Kap. 5.1). In diesen Fällen einer sekundären Sportsucht liegt dann zwar der Symptomkomplex der Sportsucht vor, allerdings steckt das eigentliche und ursächliche klinisch-psychische Problem nicht im Sport- und Bewegungsverhalten selbst. Demgegenüber wird von primärer Sportsucht gesprochen, wenn sich das auffällige Verhalten im Sporttreiben selbst bzw. in der Auseinandersetzung mit dem Sport selbst entwickelt (Kleinert 2014).

      Diese Einteilung in eine primäre und sekundäre Sportsucht wird von einigen Autoren unterstützt (Breuer und Kleinert 2009; Freimuth et al. 2011; Kleinert 2014; Veale 1995), wenngleich sie auch nicht kritiklos bleibt (Keski-Rahkonen 2001; Zeeck und Schlegel 2012). Insbesondere ist in der Praxis ätiologisch nicht immer nachweisbar, welche der bestehenden Störungsbilder ursprünglich entscheidend war, zum Beispiel ob die Essstörung zu einem sportsüchtigen Verhalten oder die Sportsucht zu einem essgestörtem Verhalten geführt hat (»Henne-Ei-Problem«). Gleichzeitig weisen jedoch Untersuchungen darauf hin, dass Sportsüchtige ohne Vorliegen anderer Störungen (d. h. eindeutig primär Sportsüchtige) eine andere Motivationsstruktur (Blaydon et al. 2002) und auch in anderen Merkmalen (Freimuth et al. 2011) Unterschiede zu vermutlich sekundär Sportsüchtigen zeigen. In der epidemiologischen Betrachtung wäre die Unterscheidung einer primären und einer sekundären Sportsucht deshalb wichtig, da allein die starke Verbindung von Essstörungen und auffälligem Sport- und Bewegungsverhalten (Davis und Kaptein 2006) die Prävalenz der Sportsucht überwiegend erklärt. Oder anders: Sportsüchtige, die kein auffallendes Essverhalten zeigen, sind einerseits relativ selten, andererseits ein Hinweis darauf, dass Sportsucht nicht allein als sekundäre Erscheinung, also als Konsequenz einer anderer Störung auftritt.

      Die primäre Sportsucht, das heißt das krankhafte Sport- und Bewegungsverhalten ohne vorhergehende andere psychische Auffälligkeiten, ist jedoch vermutlich selten (Szabo 2000; Terry et al. 2004; Veale 1995). Breuer und Kleinert (2009) leiten aus den vorliegenden Zahlen und Untersuchungsbedingungen ab, dass die primäre Sportsucht je nach Krankheitsgrad (und zugrundeliegendem Instrument) bei Sportlern eine Lebenszeitprävalenz von 0,1–1 % hat. Zugleich lässt sich also sagen, dass die reine Form der Sportsucht, also ohne Begleitstörungen wie zum Beispiel Ess-, Körper- oder Zwangsstörung, eher die Ausnahme ist. Die Prävalenz der sekundären Sportsucht ist deutlich höher, was daran liegt, dass bestimmte Störungsbilder sehr häufig mit Anzeichen einer Sportsucht einhergehen. Nach Zeeck und Schlegel (2012) zeigen beispielsweise 40–70 % der Menschen mit Essstörungen auffälliges Sportverhalten. Demnach besitzen sehr wahrscheinlich die meisten sportsuchtauffälligen Patienten in der Praxis eine sekundäre Symptomatik in Folge oder im Zusammenhang mit


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