Sprache als psychotherapeutische Intervention. Steven C. Hayes
und Behandlungsmanualen nutzen können. Bisher fehlte es auch an einer verhaltenswissenschaftlichen Perspektive auf Sprache, die Lebendigkeit fördert und schädliche Reaktionen auf psychologischen Schmerz minimiert.
Wir sind auf der Suche nach einem Werkzeugkasten, der gute Dienste bei der Analyse klinischer Probleme liefert und Behandler aus allen psychotherapeutischen Richtungen auf dieser Basis befähigt, sinnvolle Arbeitskonzepte zu entwickeln. Das ist das Anliegen dieses Buches.
1.2 Kontextuelle Verhaltenswissenschaften und Sprache
Das vorliegende Lehrbuch stellt eine Theorie von Sprache vor. Diese beleuchtet die Komplexität menschlichen Verhaltens und bietet pragmatische Werkzeuge, die therapeutische Techniken aller Verfahren unterstützen können. Der Ansatz hat einen überraschenden Ursprung, einen Ableger der Verhaltenspsychologie (Behaviorismus), der als kontextuelle Verhaltenswissenschaft bekannt ist (Contextual Behavioral Science (CBS); Hayes, Barnes-Holmes & Wilson, 2012; Zettle, Hayes, Barnes-Holmes & Biglan, 2016). Die Überraschung besteht darin, dass Behaviorismus der psychologische Ansatz ist, der beinahe an den Klippen von Sprache und Kognition gescheitert wäre. Sprache war das Phänomen, das jenseits der Grenzen behavioralen Denkens lag: Eine speziell dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit, die durch einen naturalistischen, ganzheitlichen Zugang zur Psychologie nie erklärt werden könne. Zumindest ging man davon aus.
Contextual Behavioral Science ist kein Behaviorismus der alten Schule. Sie hat kein geringeres Ziel, als menschliches Leid zu lindern und die menschliche Entfaltung voranzutreiben, indem sie grundlegende wissenschaftliche Modelle zum Verständnis komplexen Verhaltens entwickelt und bereitstellt. CBS ist ein System aus philosophischen Thesen, wissenschaftlichen Daten und methodischen Standards, die alle Aspekte von Theorieentwicklung, empirischer Forschung und Umsetzung von Wissen in praktische Anwendung beeinflussen. Der Zugang zu Sprache, den Sie in diesem Buch entdecken werden, kann für Therapeuten nützlich sein. Er kann verfahrensübergreifend angewandt werden, gerade weil er in den kontextuellen Verhaltenswissenschaften verwurzelt ist.
Im Zentrum der Contextual Behavioral Science steht eine ganzheitliche und pragmatische Weltanschauung1 , der funktionale Kontextualismus. Die Basis sind spezifische philosophische Annahmen zum Konzept Wahrheit, die für die Entwicklung, Überprüfung und Bewertung von Theorien und wissenschaftlichen Beweisen eingesetzt werden können. Das Maß, an dem sich Fortschritt festmachen lässt, ist die Wirksamkeit – »Wie gut hilft mir dieser Denkansatz dabei, meine Ziele zu erreichen?« In der kontextuellen Verhaltenswissenschaft steht das Ziel, Leid zu lindern und Wohlbefinden zu fördern, im Zentrum. Wir möchten daher unsere Leserinnen dazu ermutigen, die Konzepte und Techniken, die in diesem Buch vorgestellt werden, über das Kriterium Wirksamkeit des funktionalen Kontextualismus zu prüfen und damit zu experimentieren – »Helfen die Techniken mir dabei, meine Patienten besser zu verstehen?«, »Verbessern sie die therapeutische Beziehung?«, »Machen sie meine Interventionen effektiver?«. Danach können Sie überprüfen, ob es hilfreich für Sie war, Wirksamkeit als Maßstab dafür zu wählen, ob etwas als »gut« oder »wahr« einzuschätzen ist.
Contextual Behavioral Science definiert Verhalten als Aktivität eines gesamten Organismus innerhalb eines bestimmten Kontextes. Dementsprechend ist alles, was ein Mensch tut, ein Verhalten. Das schließt Denken, Erinnern, Aufmerksamkeit, Fühlen und Wahrnehmung mit ein. Viele Leser werden es gewohnt sein, Verhalten von Denken oder Verhalten von Emotion zu unterscheiden und empfinden den hier beschriebenen Gebrauch des Wortes möglicherweise als merkwürdig oder sogar falsch. Der funktionale Kontextualismus verwendet die obige Definition jedoch, weil sie bei der Behandlung von Patienten erlaubt, eine überschaubare Menge von verhaltenswissenschaftlichen Prinzipien bei einer großen Vielfalt von praktisch relevanten Themen anzuwenden. Der Pragmatismus dieses Ansatzes erlaubt dem Therapeuten einen flexiblen Umgang mit der Vielfalt menschlicher Erfahrungen sowie den zahllosen, nicht vergleichbaren Kombinationen, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen Patienten, Settings und situationsabhängigen Faktoren ergeben. Gleichzeitig bleibt der Ansatz in der Psychologie als Wissenschaft verankert.
Sie werden vielleicht bemerken, dass diese Definition von Verhalten keine Trennung zwischen der Aktion eines Organismus und dem Kontext, in dem sie auftritt, vornimmt. Grund dafür ist, dass die CBS als Teil einer umfassenden Evolutionswissenschaft Verhalten im Hinblick auf seine Vielfältigkeit und den daraus entstehenden Vorteil wertet, und weiter: CBS verfolgt ein sehr pragmatisches Ziel: dabei ist der einzige Weg festzustellen, ob ein Verhalten effektiv ist, die Überprüfung, wie gut es in einem bestimmten Kontext funktioniert. Mit Kontext ist das Umfeld gemeint, in dem ein Verhalten auftritt. Kontext beschreibt alles, was dieses Verhalten beeinflusst, also wann, wie und warum etwas geschieht. Kontext bezieht sich sowohl auf zeitlich vorangehende wie auch auf gegenwärtige Faktoren, die auf das Verhalten des Organismus Einfluss nehmen. Dazu gehören biologische, gesellschaftliche und kulturelle Variablen, die Entwicklungs- und Lerngeschichte sowie gegenwärtige innere (z. B. kognitive, affektive) und äußere Einflüsse. Verhalten wird also durch vielfältige Faktoren des jeweiligen Kontextes beeinflusst. Es ist daher möglich, dieses Verhalten zu ändern, indem der Einfluss ausgewählter Faktoren geschwächt oder verstärkt wird.
Das Verändern von einzelnen Elementen des therapeutischen Kontextes, einschließlich der Sprache, kann das Erleben der Patientin erheblich verändern. Dies beeinflusst auch Ebenen, die Psychotherapeuten nicht direkt zugänglich sind, wie die physiologische, kognitive, emotionale oder motivationale Ebene. Dies gibt die Macht, Veränderung zu erzeugen, fest in die Hände des Therapeuten und des Patienten. Sie können die Mechanismen der Veränderung in der Therapie identifizieren und gezielt beeinflussen. Dies ermöglicht besonders effiziente Interventionen, die ein breites Spektrum therapeutischer Ziele beeinflussen, indem sie zentrale behaviorale Prozesse und Funktionen ansprechen, anstatt sich auf spezifische Formen von Gedanken, Emotionen oder Verhalten zu beschränken.
Das Buch hat folgende allgemeine Ziele: Therapeuten und ihre Patienten sollen befähigt werden, 1) zu identifizieren, welche kontextuellen Elemente ihr Verhalten beeinflussen und 2) die Kraft der Sprache zu nutzen, um den Kontext so zu verändern, dass er adaptives Verhalten begünstigt. Unser Ansatz basiert auf einer kontextuell-verhaltenswissenschaftlichen Theorie von Sprache und Kognition, der Bezugsrahmentheorie (Relational Frame Theory, RFT; Hayes, Barnes-Holmes & Roche, 2001). RFT gründet sich auf einem dynamischen Forschungsprogramm. In diesem Zusammenhang sind bereits über 150 empirische Publikationen entstanden. Sie betreffen die Bereiche Psychopathologie, Theory of Mind, implizite kognitive Prozesse, Intelligenz, regelgeleitetes Verhalten, Problemlösen, Selbstkonzept und andere für die Behandlung von Patienten wichtige Themen (Dymond & Roche, 2013). Die Grundsätze von RFT werden bereits erfolgreich in folgenden Bereichen angewandt: Förderung von Bildung, Behandlung von entwicklungsbedingten Beeinträchtigungen, Gesundheitsverhalten, Verminderung von Risikoverhalten, Leistungssteigerung, Behandlung von Problemen in intimen Beziehungen, Organisationsmanagement, Förderung von kulturellen und sozialen Transformationsprozessen. Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999, 2012) ist die erste Psychotherapie, die sich explizit auf RFT bezieht. ACT ist eine evidenzbasierte Behandlungsmethode für ein breites Spektrum von Gesundheitsproblemen (siehe Liste der evidenzbasierten Programme der American Psychological Association, Division 12 und der U.S. Substance Abuse and Mental Health Services Administration). Das vorliegende Buch ist allerdings kein ACT-Manual. Es soll keinen neuen, besseren Weg beschreiben, ACT anzuwenden. Es behauptet auch nicht, dass Sie ACT erlernen müssen, um RFT bei Ihren Patienten anzuwenden. Es soll weder ACT noch irgendeine andere Behandlungsmethode ersetzen. Es ist die Absicht dieses Buches, Prinzipien zu erkunden und zu erläutern, die für einen gemeinsamen elementaren Mechanismus aller Psychotherapiemethoden gelten – Sprache.
1.3 Sprache ist erlerntes Verhalten
1.3.1 Aufbau von und Reagieren auf symbolische(n) Beziehungen
Der moderne Mensch existiert seit weniger als 200.000 Jahren (McDougall, Brown & Fleagle, 2005). Die meisten psychologischen Prozesse, die Auswirkungen auf uns haben, sind jedoch viel älter. Die Lernprozesse der operanten und klassischen Konditionierung sind vermutlich mehr als 500 Millionen Jahre alt (Ginsberg