Nibelar - Die Gruft. Christine Troy
inzwischen vergangen, so viele Stunden der Sehnsucht. Unzählige Male hatte sie voller Wehmut an ihn gedacht, sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er endlich zurückkehren würde. Wo er wohl gerade war und was er machte? Vermutlich befand er sich auf dem Weg nach Miragon. Sarunas Herz brannte vor Aufregung, als ihr einfiel, dass sie ihrem so sehnlich vermissten Jäger in wenigen Stunden wiederbegegnen würde.
„Da bist du ja“, unterbrach Raja Sarunas Gedanken. Gweldon kam mit bedrückter Miene auf sie zugetrottet.
„Und ist es sehr schlimm für Loweon?“, fragte Saruna.
Die Lippen zum schmalen Strich gepresst nickte der Alchimist. „Es war sein sehnlichster Wunsch, mit uns gehen zu dürfen.“ Der Alchemist fuhr sich gereizt mit der Hand durchs Haar. „Es nützt nichts, es gibt keinen Weg, das Gelenk in so kurzer Zeit vollkommen heilen zu lassen.“
„Vielleicht ist es gar nicht das Schlimmste, wenn Loweon hierbleibt. So verfügt unser Volk im Falle eines Angriffes wenigstens über einen fähigen Krieger“, sagte Saruna aus tiefster Überzeugung, was Raja und Taluas einen ungläubigen Blick austauschen ließ.
Gweldon schwieg und griff nach dem Rucksack, den ihm seine Schwester entgegenhielt. „Hast du alles eingepackt?“
„Ja, ich glaube, ich habe nichts vergessen.“
„Hast du auch den Malustrank und die anderen Elixiere und Tinkturen aus meinem Arbeitszimmer mitgenommen?“
„Ja, ist alles dabei.“
„Und mein Ersatzkräutermesser?“
„Findest du in der Seitentasche deines Rucksacks.“
„Gut, dann lasst uns aufbrechen.“ Mit einem unangenehmen Druck in der Brust wandte sich Gweldon seiner Felsschwinge, einem gigantischen geflügelten Steinbock mit leuchtend orangen Augen, zu.
Minuten später waren sämtliche Rucksäcke auf die Rücken der Reittiere gebunden und die vier Freunde sattelten auf. Eine Handvoll Waldelfen, darunter Fuldaf und Marele, waren zum Abschied gekommen. Sie alle wirkten bedrückt, alle bis auf Fuldaf, der als Einziger eine gewisse Zuversicht ausstrahlte und dem Alchemisten aufmunternd zunickte. „Auf bald“, rief Mareles sanfte Stimme über die Zuschauer hinweg. „Mögen eure Wege sicher sein.“
Die Freunde hoben die Hand zum Abschied. „Auf bald!“ Schon öffneten sich die Schwingen der Böcke und die vier hoben unter rauschenden Flügelschlägen und aufwirbelnden Blättern ab.
Grünbraun flog der Wald in Farbfetzen an ihnen vorbei. Die durch die hohe Geschwindigkeit kühl wirkende Luft ließ sie frösteln und brachte Sarunas Augen zum Tränen. Die Zeit verging. Bald brach das Dickicht des Andusgehölzes vor ihnen auf und die Felsschwingen mit Taluas, Raja, Saruna und Gweldon flogen der Reihe nach hinaus aufs freie Land. Grüne Wiesen und Auen, soweit das Auge reichte, erstreckten sich vor ihnen. Kleine Bäche, Seen und größere Flüsse, deren Plätschern nur gedämpft an ihre Ohren drang, durchzogen das Land. Weit im Norden erhob sich, umrahmt von dunklen Wäldern, eine Bergkette, dort musste Cindur liegen. Es war ein wundervoller Tag, die Sonne lachte vom Himmel und die frische Frühlingsluft war erfüllt von zartem Blumenduft.
Gweldons nachdenklicher Blick war in die Ferne gerichtet. Bei der Geschwindigkeit, die die Felsschwingen an den Tag legten, würden sie Miragon in wenigen Stunden erreichen. Ob die Feuerelfenbrüder sie im Gasthaus Zum Brennenden Busch schon erwarteten? Möglich. Und wenn nicht, dann wäre es auch nicht weiter schlimm, schließlich hatte er selbst noch einiges für ihre Reise vorzubereiten. Saruna hatte zwar all seine Sachen eingepackt, doch die Tränke und Elixiere musste er sich schon selbst zusammenbrauen. „Zwei bis drei Stunden“, dachte er bei sich, „wird diese Arbeit gewiss in Anspruch nehmen.“ Er hob den Kopf und betrachtete eine Weile den Himmel. Noch war er strahlend blau und wolkenlos, doch das würde sich bald ändern. Er fühlte es, ein Gewitter bahnte sich an, auch wenn jetzt noch alles ruhig war, der Sturm würde kommen. Gweldon konnte nur hoffen, dass die Regenschauer bis zum nächsten Tag nachlassen würden, denn spätestens dann würden sie bestimmt ins Gebirge aufbrechen.
Versonnen streichelte der Elf seiner Felsschwinge über den muskulösen Hals. Die Tiere in Miragon zurückzulassen, würde ihm schwerfallen. Aber es half nichts, die edlen Böcke mit ihren gigantischen Schwingen wären in der Tat zu auffallend, als dass sie sie mitnehmen konnten. Es nutzte also alles nichts, sie mussten zu Fuß gehen, obwohl die Reise auf dem Rücken der Tiere nicht annähernd so lange, geschweige denn so gefährlich gewesen wäre.
„Taluas!“ Rajas Stimme riss den Alchemisten aus seinen Gedanken.
„Ja?“
„Hast du Ranons Nachricht für Prinzessin Tristade dabei?“
„Ja, habe ich, warum?“
„Zum Glück! Die hatte ich nämlich ganz vergessen.“
„Das habe ich gesehen, du warst so damit beschäftigt, dich von Ranon zu verabschieden, dass du sie glatt auf dem Tisch hast liegen lassen.“
„Oh, hab ich das?“, murmelte die Kleine, in Gedanken bei ihrem Gemahl, dem der Umstand, dass sich seine geliebte Frau erneut auf eine gefährliche Reise begab, gar nicht gefiel. Trotz der Tatsache, dass Taluas sie begleitete, war Ranon bis zuletzt unglücklich über ihre Entscheidung gewesen. „Hauptsache, du hast sie dabei!“
„Darf ich fragen, warum Ranon seine Nachricht an Prinzessin Tristade und nicht an ihren Vater, König Werus, richtet?“, erkundigte sich Gweldon verwirrt.
„Weißt du es denn noch nicht?“
„Was?“ Der Alchemist flog näher an Raja heran.
„König Werus ist Ende letzten Jahres gestorben.“
„Er ist tot?“
„Ja, der Blutbrand hat ihn und Hunderte weiterer Miraner niedergerafft.“
„Und nun regiert Tristade?“
„Ja.“
„Aber sie ist doch noch ein so junges Mädchen.“
„Mag sein, aber es heißt, sie beherrsche ihr Amt und regiere ihr Volk mit derselben aufopfernden Hingabe wie einst ihr Vater. Sie soll eine ebenso strenge wie gerechte Herrscherin sein.“
„Interessant. Und Ranon hat also eine Nachricht für sie?“
„Ja, Ranon ist sich sicher, dass es uns nicht gelingen wird, so kurzfristig, also in den paar Stunden, die wir in Miragon verbringen, eine Audienz bei ihr zu erhalten. Er fand, es wäre das Vernünftigste, ihr eine schriftliche Nachricht über Nibelars Situation zukommen zu lassen. Er wird ihr außerdem ein Treffen vorschlagen, um ihr die Lage genauer zu erörtern.“
„Denkst du wirklich, dass Tristade dich nicht empfängt? Ich meine, du bist Raja, König Algars Nichte sowie einzige und letzte Nachfahrin des hohen Geschlechts der Meranzwerge.“
„Schwer zu sagen. Ich denke auf jeden Fall, dass es schwierig wird. Soweit ich weiß, ist die Prinzessin eine sehr beschäftigte Frau. Vielleicht, wenn ich beharrlich darauf bestehe ... aber uns bleiben ja nur wenige Stunden, also ...“
„Ich würde sagen, dass du bald schon eine Antwort auf deine Frage erhalten wirst. Seht nur, da vorne, Miragon!“, rief Saruna, die das Gespräch der beiden verfolgt hatte und in der Ferne die Umrisse des auf einer Anhöhe liegenden Schlosses erkannte.
„Saruna hat recht“, bestätigte der bärtige Taluas. „Da vorne liegt Miragon.“
„Ich würde vorschlagen, wir landen außerhalb der Stadt, bringen die Felsschwingen in die Stallungen des Brennenden Busches und sehen nach, ob die Feuerelfen schon auf uns warten“, schlug der Alchemist vor.
Knappe zwanzig Minuten später hatten die Freunde ihr Ziel erreicht. Wie besprochen hatten sie die Felsschwingen etwas außerhalb des Dorfes, am Rande eines Kornfelds, zu Boden gebracht. Der Flug über Miragon war atemberaubend gewesen. Das Schloss mit all seinen Türmen und Zinnen,