Panikherz. Lisa Richter
es dauerte noch. Also schloss ich die Augen und wartete.
„David!“ Lorena legte eine Hand auf meine Schulter und rüttelte mich wach. Ich riss die Augen auf. Und schrie sofort auf. Viel zu laut. Ich schrie aus ganzer Kraft, krümmte mich vor Schmerzen. Sie waren immer noch da.
„David!“ Jetzt schrie auch Lorena, schrie immer wieder meinen Namen. Wusste nicht, wie sie mir helfen sollte. Doch dann nahm sie einfach meine Hand. Ich drückte sie instinktiv und viel zu doll. Ich schrie weiter, weinte, schluchzte.
„David, du bist wach! Du musst atmen!“, stammelte sie. „Oh Gott, bitte, David, amte!“
Ich hörte ihre Stimme kaum und merkte deshalb auch nicht, dass ich immer noch nicht atmete. Weil die Schmerzen in meinem Brustkorb zu stark waren. Sie machten es unmöglich, ein- oder auszuatmen. Ich verkrampfte mich komplett. Im nächsten Augenblick spürte ich etwas Kaltes, Nasses auf meiner Stirn. Langsam kam ich wieder zu mir. Und holte tief Luft.
„David?“ Diesmal eine andere Stimme. Es war Mama.
„Ich rufe jetzt einen Krankenwagen“, hörte ich Papa sagen.
„Nein“, brachte ich leise hervor. Dann spürte ich die Übelkeit. Ich sah wieder mein verbranntes Gesicht vor mir … und die Gesichter der Mörder. „Ich muss mich übergeben.“ Ich setzte mich hin, so schnell ich konnte, aber alles drehte sich. Mama nahm den Waschlappen von meiner Stirn. Papa rannte wieder weg, vermutlich, um einen Eimer zu holen. Schnell nahm ich eine Krücke und wollte zum Badezimmer stürzen. Lorena stützte mich halb auf der anderen Seite aus Angst, ich könnte umkippen. Irgendwie bekam ich es hin, Abstand von ihr zu bekommen und mich im Bad einzuschließen. Dann kniete ich mich vor die Toilette, darauf bedacht, das verletzte Knie nicht zu sehr zu belasten. Ich wollte mich übergeben, aber es ging nicht. Noch nie hatte ich mich nach meiner Gefangenschaft bei den Mördern so elendig gefühlt. Noch nicht einmal, als ich sofort danach mit wirklich starken Schmerzen im Krankenhaus gelegen hatte. Das hier war viel schlimmer.
Ich versuchte, wieder regelmäßig zu atmen. Doch immer wieder tauchten diese Bilder vor mir auf. Durchzuckten meinen Körper wie schmerzende Stromschläge. Ich verbrannte am ganzen Körper. Einige Scherben des Spiegels steckten in meinem Körper, hatten viel Blut, tiefe Wunden hinterlassen. Ich hörte meine Mörder, die sich über mein Leid lustig machten. Ich krümmte mich vor dem WC, würgte, aber es kam immer noch nichts. Ich konnte die Übelkeit nicht länger ertragen. Irgendwann schaffte ich es, mir den Finger in den Hals zu stecken, obwohl ich dabei ziemlich zitterte. Nun übergab ich mich heftig. Und geräuschvoll. Es ging nicht leiser. Ich versuchte dabei, keuchend weiter zu atmen und nicht vor Schmerzen zu schreien.
Dann war es vorbei. Endlich verging die Übelkeit. Aber dafür wurde mir schwindlig. Ich betätigte die Spülung und legte meine Stirn auf den Rand des WCs – einerseits aus Angst, noch einmal brechen zu müssen, andererseits, um nicht umzukippen. Alles drehte sich. Ich zitterte nun am ganzen Körper.
„David, mach die Tür auf!“, schluchzte meine Schwester. „Bist du noch bei Bewusstsein?“ Sie weinte laut, wimmerte. „Mach auf! Du kannst das nicht immer alles allein durchstehen, verstehst du?“
In dem Moment verstand ich es. Aber nicht, weil ich Angst um mich hatte, sondern um die anderen. In dieser Nacht hatten meine Eltern fast den Verstand verloren und Lorena erst recht. Meine Eltern hatten gar nicht wirklich mitbekommen, was mit mir los gewesen war. Bisher hatte ich nur meiner Schwester von diesen Albträumen erzählt und nur sie wusste auch, dass ich diese Panikattacken bekam. Ich hatte sie gebeten, unseren Eltern nichts zu erzählen, weil ich nicht wollte, dass sie sich sorgten oder mich drängten, zu einem Therapeuten zu gehen. Meine Eltern dachten, Lorena schliefe in meinem Zimmer, damit ich mich nicht so allein fühlte. Sie hatten das auch gar nicht hinterfragt, weil ihnen klar war, dass ich nach diesem Vorfall Unterstützung brauchte und mich Lorena am besten anvertrauen konnte.
Meiner Schwester aber war immer sofort klar gewesen, dass ich nach dem Aufwachen aus einem solchen Traum starke Schmerzen hatte. Unfassbar, wie stark eingebildete Schmerzen sein konnten. Aber meine Therapeutin hatte mir das so erklärt: Es war sogar normal, dass die Schmerzen in Panikattacken stärker waren als in der Realität. Denn all der Schmerz, den ich gespürt hatte, als ich von meinen Mördern gefoltert worden war, hatte sich in meinem Kopf abgespeichert. Immer wenn ich Panik bekam, sammelten sich alle Erinnerungen an den Schmerz und unterbewusst betätigte mein Körper dann alle Schmerzrezeptoren auf einmal. Das war in der Realität gar nicht möglich.
Jedenfalls hatte ich erst verstanden, wie schlimm mein Zustand wirklich war, als ich zur Tür gekrochen war, um sie dann mühevoll zu öffnen. Anschließend ließ ich mich wieder auf den Boden sinken aus Angst, umzukippen. Lorena fiel mir schreiend und weinend um den Hals, weil sie gedacht hatte, ich mache im verschlossenen Badezimmer das Letzte. Papa hatte unterdessen versucht, die Tür aufzubrechen, und Mama hatte vollkommen bewegungslos vor Schock im Flur gestanden. In dieser Nacht hatte ich unendliches Leid auszustehen, aber das machte mir weniger aus, als das Leid der anderen zu sehen – das in den Augen meiner Eltern und meiner Schwester. In dem Moment wusste ich, dass ich so nicht weitermachen konnte.
Als ich aus meinen Erinnerungen auftauchte, starrte ich wieder auf den Bildschirm des Laptops. Voller Wut schloss ich ihn. Es hatte keinen Sinn. Um wirklich etwas herausfinden zu können, müsste ich einen Blick in die Unterlagen der Polizei werfen können. Müsste eine Liste der Personen haben, die den Tatort und somit auch die Lilien gesehen hatten. Aber solche Informationen würde mir niemand geben. Oder ich musste mit jemandem sprechen, der in den Fall verwickelt gewesen war. Aber wer kam infrage? War es vielleicht sogar falsch, dass ich die beteiligten Polizisten und Sanitäter als Verdächtige ausschloss? Wenn sie es nicht waren, wer dann? Sollte ich mich vielleicht nach der Verwandtschaft der Mörder erkundigen? Gab es da überhaupt noch jemanden? Ihre Geschwister waren alle tot und hatten keine Kinder gehabt. Dafür waren sie zu früh gestorben. Herr Köhler hatte mir damals mitgeteilt, dass die Geschichten, die die beiden Mörder mir erzählt hatten, komplett der Wahrheit entsprachen. Was war mit den Eltern? Lebten sie überhaupt noch? Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie jetzt sein könnten, aber sicherlich über sechzig.
Ich hörte Franziskas Schritte näherkommen, bis sie schließlich von hinten die Arme um meinen Brustkorb schlang und mich auf die Wange küsste. „Kommst du mit ins Bett?“
Ich zögerte und schaute auf die Uhr. Ich hatte bei meinen Überlegungen völlig die Zeit vergessen. In einer halben Stunde war es Mitternacht. „Natürlich.“
Mitten in der Nacht wurde ich von einem Geräusch geweckt. Zunächst beunruhigte mich das nicht, denn ich dachte, dass die Schritte, die ich vernommen hatte, vom Treppenhaus unseres Wohnhauses oder von der Nachbarin über uns kommen würden. Das kam öfter einmal vor. Vorsichtig setzte ich mich im Bett auf, weil ich selbst keinen Laut von mir geben wollte. Dann schaute ich neben mich und beobachtete für ein paar Sekunden die schlafende Franziska, die nichts gehört zu haben schien. Plötzlich vernahm ich die Schritte wieder. Deutlicher. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir klar wurde, dass sie hier in der Wohnung zu hören waren. Und immer näher kamen. Kurz überlegte ich, Franziska zu wecken, aber sie würde Angst bekommen und mit mir sprechen und das würde die Schritte vermutlich in unser Schlafzimmer führen. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht bewegen. Panisch sah ich mich im Zimmer nach einem Gegenstand um, mit dem ich mich wehren konnte. Aber das Licht im Zimmer, das nur von einem kleinen Nachtlicht an der Steckdose ausging, war nicht hell genug, um potenzielle Waffen auffindbar zu machen. Trotzdem überlegte ich, was hier im Schlafzimmer so herumlag. Die Vase auf der Fensterbank? Der Kugelschreiber auf der Kommode? Alles zu weit weg, nicht in der Nähe des Bettes. Ich traute mich nicht, aufzustehen, denn ich wollte kein Geräusch machen. Und hoffte, die Schritte würden vielleicht von allein verschwinden.
Dann wurde unsere Schlafzimmertür langsam geöffnet. Mit rasendem Herzen starrte ich auf die Silhouette eines großen Mannes. Der Schatten eines Mannes, der mir unglaublich bekannt vorkam. Ich wusste sofort, wem er gehörte. Jetzt kam mein Mörder direkt auf mich zu. Zum Glück blieb er von Franziska fern, kam aber immer weiter zu mir, bis er vor meiner Bettkante stehen blieb. Ich konnte immer noch nicht reagieren. Meine Angst lähmte mich, denn ich wusste nicht, ob es besser war, sich zu