Panikherz. Lisa Richter
Dann kam Lorenas verzweifelte Stimme in meinen Kopf, die mich ein paar Minuten nach dem Telefonat mit der Polizei angerufen hatte: „David, ein Herr Vogt von der Kripo hat gerade bei mir angerufen. Er sagte, es wären nur deine Fingerabdrücke auf den Lilien zu finden, und er fragte mich wortwörtlich, ob du psychisch labil seist.“
„Aha, und was hast du ihm gesagt?“ Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Dass alles in Ordnung ist mit dir.“
„Da hast du ja schön gelogen.“
„Ist doch egal, was ich sage. Er kann nicht wissen, dass du in therapeutischer Behandlung bist. Und selbst wenn, nach so einem Vorfall, wer wäre das nicht?“
„Wer wäre das noch nach zehn Jahren?“
Sie holte Luft. „David …“, brachte sie nur hervor.
„Er glaubt also, ich habe das vorgetäuscht, und will nur Aufmerksamkeit auf mich ziehen?“
„Ich weiß nicht.“
„Na klar wollte er das damit sagen.“
„Er hat mir gesagt, dass keine Gefahr besteht.“
„Und das glaubst du?“
Sie antwortete nicht mehr.
„Lorena …“ Mein Herz raste. „Glaubst du, dass ich das war?“
„Nein.“
Mein Herz beruhigte sich, ich kannte meine Schwester gut und ich hörte in ihrer Stimme, dass sie mir ehrlich geantwortet hatte. „Das einzige Dumme ist nur, dass es niemand beweisen kann. Es gibt keine Beweise, die dagegensprechen, dass du es warst.“
Damit hatte sie recht. Noch einen heftigen Stoß versetzte ich dem Schlagpolster. Warum hatte ich mit zwei Lilien in Lorenas Wohnhaus gestanden? Natürlich musste das verdächtig ausgesehen haben. Warum hatte ich Lorena nicht angerufen, bevor ich zu ihr gefahren war? Dann hätte sie die Lilie selbst entdeckt. Warum hatte nur ich diese Lilien angefasst? Noch einige starke Schläge …
„David!“ Lorena brachte mich zurück in die Realität. „Es reicht“, sagte sie halb lächelnd, halb besorgt. „Jetzt bin ich dran. Ich muss mich auch noch warm machen, es geht gleich los.“
Ich sah in ihren Augen, dass sie meine Wut bemerkte und dass sie auch genau wusste, woher sie kam. Und ich sah in ihren Augen, dass sie das alles sehr beunruhigte.
Aber ich ging nicht darauf ein. Also tauschten wir und ich hielt das Schlagpolster. Nun schlug Lorena mehrmals mit Händen, Ellenbogen und Knien darauf ein – ähnlich wie ich zuvor. Lorena und ich gingen jede Woche zusammen zum Kampfsport. Mit 17 hatte ich angefangen. Dann waren meine Verletzungen endlich so gut verheilt, dass ich wieder ernsthaft Sport machen konnte, denn mit meinem Bein hatte ich lange Probleme gehabt – und ich hatte sie auch heute noch. Wenn man davon wusste, sah man, dass ich leicht humpelte, vor allem, wenn ich joggen ging, aber im Alltag fiel es kaum auf. Vielleicht war es ganz normal, dass ich das Bedürfnis verspürt hatte, Kampfsport zu betreiben. Denn ich wollte wissen, wie ich mich am besten verteidigen konnte – etwas, das mir bei den Mördern nie gelungen war – vor allem aber wollte ich stark genug werden. Außerdem war diese Sportart einfach die beste Gelegenheit, sich abzureagieren von all der Wut, von der ich immer viel zu viel in mir trug. Hauptsächlich war ich dabei wütend auf mich selbst. Dass ich von zu Hause abgehauen war, um so eine kranke Story zu erleben, die mich bis heute verfolgte. Wütend darauf, dass ich schlechter damit leben konnte, als ich jemals gedacht hatte. Damals, als ich im Himmel war. Manchmal bin ich sogar wütend darauf, dass ich nicht dortgeblieben war. Dann fragte ich mich, ob ich – wieder einmal – falsch entschieden hatte.
Die ersten Tage im Krankenhaus nach dem Vorfall waren für mich wie ein Schock gewesen. Dann kamen die Schmerzen so stark zurück, dass sie mir Angst machten, ich fühlte mich richtig elendig. Manchmal wollte ich einfach wieder unter der Sonne auf einer Wolke herumhüpfen und mich frei fühlen. Aber dann saßen meine Schwester und Franziska an meinem Bett und überzeugten mich mit ihrer reinen Anwesenheit vom Gegenteil. Dann war ich sicher, dass es richtig war, bei dem Mädchen zu bleiben, in das ich mich verliebt hatte. Und es war richtig, zu meiner Schwester zurückzukehren, bei ihr zu bleiben, mit ihr weiterzuleben. Denn auch sie hatte sich durch diesen Vorfall verändert, und ich wollte für sie da sein.
Nachdem ich anfangs ein paar Mal beim Taekwondo gewesen war, hatte meine Schwester mich gefragt, ob ich einverstanden wäre, wenn sie mitkäme. Ich hatte nichts dagegen gehabt, denn auch ihr tat es gut, zu wissen, wie man sich selbst verteidigen konnte. Und mich beruhigte es zudem, zu wissen, dass sie sich in einer Notsituation selbst helfen konnte. Nachdem wir von zu Hause ausgezogen waren, meldeten wir uns in Potsdam beim Krav-Maga an, einem israelischen Selbstverteidungssystem, bei dem man Bodenkampf, Grifftechniken, aber vor allem auch die Abwehr von Waffen lernte.
Nachdem wir uns aufgewärmt hatten, rief uns der Trainer zu sich. „Heute wollen wir die Messerabwehr weiter vertiefen“, erklärte er, während er ein Holzstück in Form eines Messers in die Höhe hielt. Ein Freiwilliger aus unserer Runde attackierte unseren Trainer nun mit diesem Gegenstand, sodass er uns verschiedene Abwehrmethoden zeigen konnte. Ich versuchte, mir alles gut einzuprägen, und übte schließlich mit Lorena. Jedes Mal, wenn wir so etwas machten – uns zur Übung gegenseitig angriffen – sah ich in ihrem Blick, dass sie sich erinnerte. Besonders an diesem Tag, als es um ein Messer ging, sah ich sie in ihren Augen: die Angst von damals. Die Angst, die wir verspürt hatten, als wir von den Geschwistermördern mit einem Messer angegriffen worden waren.
Aber vielleicht war diese Angst manchmal produktiv, denn Lorena wehrte jeden Angriff von mir ab. Jedes Mal, wenn ich mit dem unechten Messer in der Hand auf sie zu ging, gelang es ihr, meinen Arm wegzudrücken und Abstand zu mir zu bekommen. Vielleicht gerade deshalb, weil sie sich erinnerte. An diesen Schmerz, den wir beide teilten. Der plötzliche, unerträgliche, scharfe Schmerz. Die Luft an den geöffneten Pulsadern …
Mir entging es auch nicht, dass ihr Blick bei den Übungen manchmal auf der Narbe an ihrem rechten Handgelenk hängen blieb. Dieselbe Narbe, die ich auch hatte – und an der ich verblutet war. Vielleicht dachte Lorena, dass wir diese Narben nicht hätten, wenn sie sich damals hätte besser verteidigen können. Machte sie sich wohl Vorwürfe deswegen? Aber dann sah ich auch, wie sie bei den Übungen immer wieder unsere Tattoos ansah. Lorena und ich hatten ein ähnliches Tattoo am linken Handgelenk. Ich weiß noch genau, wie ich an meinem sechzehnten Geburtstag Geschenke ausgepackt hatte. Das war ungefähr ein halbes Jahr nach dem Vorfall gewesen. Die Wunden an meinem Körper waren, so gut es ging, verheilt und ich konnte gerade wieder vernünftig laufen, ohne stark zu humpeln. Aber ich spürte, dass die Narben auf meiner Seele noch lange nicht verheilt waren, und ich war mir damals schon sicher gewesen, dass sie niemals ganz verblassen würden. Beim Auspacken der Geschenke kam mir genau dieser Gedanke. Ich fragte mich einfach, was mich jetzt glücklich machen könnte. Und ob mich überhaupt irgendein materielles Geschenk je wieder glücklich machen könnte. Dabei fiel mir auf, dass dies mein erster Geburtstag war, an dem ich gar nicht so viel Materielles geschenkt bekam, und fragte mich, ob es an dem Vorfall lag. Franziska schenkte mir einen MP3-Player, auf den sie meine Lieblingsmusik geladen hatte, denn sie wusste, dass ich vor dem Einschlafen gerne Musik hörte. Manchmal half mir die Musik beim Einschlafen, manchmal dabei, schlaflose Nächte zu überstehen. Über das Geschenk meiner Schwester war ich überrascht. Sie übergab mir einen Umschlag und ich war irritiert gewesen, als ich wenige Sekunden später einen Gutschein für ein Tattoo-Studio in den Händen hielt. „Was? Ich bin erst sechzehn“, sagte ich sofort. Doch dann gab Mama mir noch einen Umschlag. Ich grinste fassungslos, als ich ihn öffnete und die unterschriebene Einverständniserklärung meiner Eltern sah.
„Nicht euer Ernst.“ Ich sah meine Eltern erstaunt an.
Mama zuckte mit den Schultern. „Lorena hat uns überredet.“
Ich war verblüfft und fragte. „Wie hast du das geschafft?“
„Na ja, eigentlich hatte ich vor, dass wir beide uns zusammen tätowieren lassen.“
„Du