Du, mein geliebter "Russe". Nelli Kossko
„genoss“ sie selbst von klein auf das schreckliche Desaster, das diese ethnische Gruppe jahrzehntelang mit sich herumtragen musste: die Aussiedlung, Verschleppung, ein Leben in Gewahrsam und unter Kommandanturaufsicht, die Rückkehr in die alte Heimat Deutschland und die Integration. Weil sie ihre Vergangenheit, die sie immer wieder einholt, nicht verdrängen kann, teilt die Autorin sie mit ihrem Leser und erzählt ihm, wie ihre Verwandten diese grausamen Zeiten überlebten, wie es ihnen in der eisigen nördlichen Wüste erging und wie sie es schafften, einen neuen Weg einzuschlagen, der sie in die Freiheit führen sollte. Sie spricht von denen, für die die Verbannung zur „ewigen Ruhe“ bestimmt war und von denen, die sich aus diesem höllischen Kessel befreien konnten.
Der vorliegende Roman „Du, mein geliebter Russe!“ ist auch ein Abschnitt ihrer Familienchronik, in dem Nelli Kossko das herzbewegende Schicksal eines Liebespaares schildert. Die Ereignisse dieser deutsch-deutschen Liebesgeschichte spielen sich in Deutschland und im hohen Norden der ehemaligen Sowjetunion ab. Der russlanddeutsche Junge Arthur Gerber und das reichsdeutsche Mädchen Liesel Möller begegnen einander kurz vor dem Kriegsende in der Erwartung, sich niemals zu trennen und ein schönes Leben aufzubauen. Ein Leben in großer Zuversicht und unendlicher Gewissheit, dass die Liebe ihre kleine Welt für ewig zusammenhalten wird. In 17 kurzen Kapiteln beschreibt die Schriftstellerin die Geschehnisse des Jahres 1945 und verfolgt abwechselnd den Lebensweg ihrer Helden: den von Arthur, der zunächst in Magadan, der „Hauptstadt des Planeten der Gefangenen“ landete, und den von Liesel in Deutschland. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie sich wiedersehen, und ihr Treffen ist alles andere als das Happy End, von dem sie beide schwärmten. Das Glück, zusammen in Liebe zu altern, war ihnen nicht beschieden: Arthur, der als Russlanddeutscher zum Volksdeutschen wurde und doch „nicht arisch genug war“, wurde einer „Umerziehung“ unterzogen und ist zum Opfer zweier Diktaturen geworden. Die Gestapo und ihr sowjetisches Ebenbild, der NKWD, ließen ihn lange nicht aus den Augen. Auch Liesel traf es schlimm, aber sie gab nicht auf, weil sie nicht aufhören konnte, auf ihren „geliebten Russen, den Gutsten“ zu warten. Um ihre Sehnsucht nach dem Unerfüllten zu stillen, schreibt sie ihrem „geliebten Russen“ Briefe, in denen sie ihre Liebe ausschüttet, doch sie sollten den Empfänger erst ein halbes Jahrhundert später erreichen … Auch in diesem Werk bleibt die Autorin ihrem Thema treu, sie kann die Vergangenheit nicht der Vergangenheit überlassen und einen dicken Strich darunter ziehen, denn das „verpfuschte Leben“ von Millionen Opfern, die diese grausame Zeit in alle Winde verweht hat, kann sie nicht einfach abschütteln. Ihr Leben wurde auch von Ängsten und dem „reichhaltigen Instrumentarium der Inquisitoren“ geprägt. Verbote, Kündigungen und Missachtung sind keine leeren Begriffe – sie zeichneten sich als rote und grüne Linien auch in ihren Adern ab und hinterließen eine lange Schleife von Trauer und Schmerz. Davon hat sie eine raue Menge gesammelt. Aber auch Freude und Glück haben sich in ihrem Leben wie Sand am Meer angehäuft, und dessen sonnenüberströmten Körnchen ist sie gern bereit, ihren Mitmenschen zu schenken, denn sie glaubt fest daran, dass es nichts Wertvolleres auf der Erde gibt als die Liebe, die Menschen aufs „Innerste zusammenhält“.
Rose Steinmark
Münster
„Ewig bleibt es unverloren,
was das Herz dem Herzen gab.“
Adalbert Stifter
Der Mann kramte in einer Schachtel mit alten Fotos, holte eines nach dem anderen heraus, warf einen Blick darauf und legte die Erinnerungsstücke seines bewegten Lebens behutsam zurück. An den ganz alten Bildern, denen aus der Vor- und Nachkriegszeit, blieb sein Blick länger haften. Es waren nicht viele, aber sie weckten besonders schmerzhafte Erinnerungen an die größten Verluste seines Lebens – die der Heimat, der Familie, der ersten Liebe und all seiner jugendlichen Ideale und Träume …
Plötzlich hielt er inne, schaute auf ein Foto in seinen Händen. Es war vergilbt, einige Male geknickt, an einigen Stellen abgeschürft, die Ecken etwas bestoßen. Die Gesichter auf dem Bild, unscharf und verschwommen, waren kaum zu identifizieren. Doch trotz allem konnte man darauf ein junges Paar erkennen, das dem Fotografen glücklich und übermütig zuwinkte. Der junge Mann in deutscher Wehrmachtsuniform hatte seinen Arm liebevoll um die Schultern des Mädchens gelegt, sie schmiegte sich vertrauensvoll an ihn, der Wind, der Schalk, spielte mit ihren Haaren, zerzauste sie und eilte davon. Die beiden lachten lauthals – man konnte es sehen und fast hören, sie waren verliebt und glücklich, auch das konnte man ihnen an den Augen ablesen. Und sie hofften auf eine glückliche Zukunft …
Der Mann schob die Schachtel beiseite und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er hatte die Erinnerungen daran immer wieder verdrängt, hatte sich selbst nicht gestattet, daran zu denken, sodass sie mit der Zeit verblasst waren, an Farbe verloren hatten, ja unwirklich erschienen. Nicht, weil er sie nicht wahrhaben wollte, nein, er durfte sich es einfach nicht erlauben, denn zwischen diesem Foto und der Gegenwart, in der er lebte, leben musste, lagen Welten, viele Welten, die jede Möglichkeit eines Wiedersehens mit der Frau auf dem Bild nicht nur praktisch, nein, auch theoretisch völlig ausschlossen.
Die Erinnerungen überkamen ihn, als hätte die Zeit plötzlich den Rückwärtsgang eingelegt …
Auf der Straße des Todes
1947. Straflager Sussuman/Sowjetunion
„Na ihr, Fritzen, wer von euch kann Russisch?“ Der junge Leutnant schaute sich grinsend die Reihen der Kriegsgefangenen auf dem Appellplatz des Lagers an und wartete gelangweilt ab. Die „Fritzen“, fast allesamt russlanddeutsche Jungs, die nach dem Einmarsch der Deutschen in die Ukraine im Zweiten Weltkrieg zur Wehrmacht eingezogen worden und nach Kriegsende in Gefangenschaft geraten waren, ahnten Böses. Was sollte die Frage? Klar, konnten die meisten mehr oder weniger Russisch radebrechen, sie hatten ja Russisch auch als Fach in der Schule gehabt, einige hatten auch schon an der Universität in Odessa studiert. Außerdem waren die deutschen Kolonien von russischen und ukrainischen Dörfern umgeben, da konnte doch fast jeder Deutsche ein paar Brocken Russisch oder Ukrainisch. Aber war es auch ratsam, das jetzt zuzugeben?
„Sollten wir uns vielleicht melden?“ Hans Malsam bewegte kaum die Lippen, als er seinem Freund, Arthur Gerber, diese Frage zuflüsterte. „Kei-nes-falls!“, zischte Arthur zurück, „dann bringen die uns womöglich sofort in den Hinterhof, wo bestimmt schon das Erschießungskommando auf uns wartet!“
„Leute, ich melde mich“, kam es halblaut aus der Reihe hinter ihnen. „Sollen die mich abknallen, ist immer noch besser, als das tagtägliche elende Krepieren hier, das uns bevorsteht …“ Die Stimme wurde lauter, und ein Junge trat vor und verkündete: „Ich kann Ukrainisch!“ „Bravo, Molodez!“, grinste der Offizier zufrieden und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Wer noch so intelligent ist, nach vorn mit euch, los, aber dalli!“ Sein prüfender Blick tastete die Reihen der Häftlinge ab.
„Du, ich melde mich auch“, meinte Hans, an Arthur gewandt, „schlimmer kann´s doch nicht werden!“
„Halt, du Hammel! Lass uns abwarten, mach doch keine Dummheiten“, versuchte Arthur, seinen Freund vor dem, wie er meinte, Schlimmsten zu bewahren, aber der war schon nach vorn getreten und meldete sich gerade beim Leutnant: „Ich kann Russisch.“
Arthur war außer sich, sah seinen Freund ins Verderben rennen, wollte ihn aber nicht im Stich lassen. So schrie er verzweifelt, bevor ihm andere zuvorkommen konnten, aus vollem Halse: „Ich auch! Ich kann auch Russisch!“ und stürmte nach vorn zu seinem Freund.
In die Reihen der Gefangenen kam Bewegung, nun wollten sich viele melden, doch der Leutnant hob die Hand: „Stop!“ Dann fragte er, zu Arthur gewandt: „Dein Freund?“ und kommentierte nachdenklich, ohne eine Antwort abzuwarten: „Wahre Freundschaft ist Gold wert! Ich schätze das sehr! Und weil ihr so treue Freunde seid, dürft ihr auch zusammenbleiben!“ „Oder zusammen sterben“,