Du, mein geliebter "Russe". Nelli Kossko

Du, mein geliebter


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ihr noch einen Handkuss und eilte davon.

      Liesel ließ sich verwirrt auf die Bank fallen. Was meinte ihr Arthur mit „heiraten“? Doch nicht etwa …? Meinte er das wirklich im Ernst?! Das mit dem Heiraten?!

      „Fräulein Möller!“, unterbrach die Stimme der Oberschwester ihre wilden, ungeordneten Gedanken. „Da sind Sie ja, Fräulein Möller. Sie werden dringend im OP gebraucht, ein neuer Verwundetentransport ist eingetroffen, es gibt Arbeit …“

      Ja, ja, die Arbeit. Liesel stand auf und ging mit gesenktem Kopf und vor Glück strahlendem Gesicht ins Lazarett: Es ist doch wahr geworden, das Märchen, an das sie nicht zu glauben gewagt hatte!

      Arthur hatte alles geregelt und eine Heiratserlaubnis bei seiner Dienststelle beantragt: „Jetzt beginnt der Papierkrieg.“ Mit finsterem Gesicht reichte er Liesel die Liste mit den Papieren, die man für die Genehmigung brauchte. „Das kann dauern, so viel Zeit haben wir ja gar nicht!“, meinte er niedergeschlagen, doch plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf, und er rief fröhlich und lauthals: „Aber du bist meine Verlobte, und als solche stelle ich dich meiner Familie auch vor! Einverstanden?“

      Ob sie was …? Das hätte er nun wirklich nicht zu fragen brauchen. Liesel lief nach Hause, packte ihre Reisetasche und eilte, ohne eine Notiz von ihrer Umgebung zu nehmen, zur vereinbarten Stelle am Bahnhof. Nichts konnte sie aufhalten, weder der lautstarke Skandal, den ihr Vater vom Zaun brach, als sie mit dem Verlobungsring am Finger zu Hause aufgetaucht war und der Familie ihre Entscheidung mitgeteilt hatte, Arthur zu heiraten, noch die Tränen der Mutter und das Gezeter der Schwestern. Sie ließ alles hinter sich, weit, weit hinter sich und lief ihrer Zukunft entgegen, der Zukunft mit Arthur, ihrem geliebten „Russen“.

      Sie war kein Spaziergang, diese Reise nach Litzmannstadt, das heute Lodz heißt, durch das zerbombte Deutschland, auf die sich Liesel und Arthur frohen Mutes begaben: Die Bomber der Alliierten machten Jagd auf die mit Menschen vollgepferchten Züge und warfen ihre todbringende Last mit Vorliebe auf die großen Verkehrsknotenpunkte ab, sodass die Fahrt zu einem endlosen Aus- und Umsteigen, mit langen Fußmärschen und mehr oder weniger langen Pausen in Luftschutzkellern wurde. Es war eine Reise mit Schrecken ohne Ende, aber die beiden haben sich in den Kriegsjahren schon einigermaßen daran gewöhnt, auch war das Szenario ja immer das gleiche: Dem Auf und Ab der Sirenen folgte unheimliche Stille, in der das leise Summen der Bomber allmählich zu einem bedrohlichen Brummen wurde, und dann der ohrenbetäubende Krach der Bombeneinschläge – einer nach dem anderen und dicht beieinander, in Sekundenabständen. Es kamen immer wieder neue Flieger, und es gingen immer wieder Bomben hoch, es krepierten Granaten und ratterten Maschinenpistolen, aber Arthur und Liesel schlugen sich von einer Station zur anderen durch und siehe da: Nach drei Tagen erreichten sie Litzmannstadt und standen endlich vor Elsa Gerbers Tür – erschöpft, elend, abgespannt, mit Tränen der Erleichterung in den Augen, aber glücklich.

      Liesel wurde sofort in die Familie aufgenommen, auch sie schloss die drei auf Anhieb in ihr Herz, was ihr nicht schwerfiel, denn sie waren warmherzig, offen und freundlich, man musste sie einfach liebhaben! „Russisch“ war Arthurs Familie überhaupt nicht, nicht die stattliche Mutter mit ihrer ungewöhnlich aufrechten und stolzen Haltung und dem freundlichen Wesen, nicht Arthurs schlaksiger Bruder Eduard und auch nicht die kleine quirlige Kathi – alle sprachen ein perfektes Deutsch, in dem jedoch noch etwas anderes leise mitschwang – ob es Schwäbisch war? Es erinnerte aber auch ein bisschen an das Hessisch, das man in ihrer Gegend sprach. Und auch sonst stimmte alles: Sie waren gepflegt, schlicht, doch sauber und ordentlich gekleidet. Vor allen Dingen aber waren sie alle so offenherzig, so aufgeschlossen und lieb zu ihr!

      Liesel und Arthur zu Ehren bereitete Elsa Gerber ein Festessen zu und lud auch ihre beste Freundin, eine Frau aus ihrem Heimatdorf, ein. Mitten im angeregten Gespräch am Tisch fragte Elsa plötzlich, an Arthur gewandt: „Sag mal, Kind, was haben denn die Soldaten, deine Kameraden, zum Anschlag auf den Führer gesagt?“ Liesel, an derart offene Gespräche nicht gewohnt, schrak zusammen, doch hier schien niemand Anstoß an Elsas Frage genommen zu haben, man war ja unter sich. „Was sie gesagt haben?“ Arthur schaute sich in der Runde um. „Na, was wohl? Ist doch klar: Hätte es den erwischt, wäre dieser unsinnige Krieg zu Ende, und das Volk, wir alle wären frei und glücklich.“ Er machte eine lange Pause und fügte leise hinzu: „Wie es scheint, geht sowieso alles den Bach hinunter … Aber wir lassen uns diesen schönen Abend doch nicht vergällen, denn wir können ein Wunder feiern – unser Wiedersehen. Also, prost!“

      Es war in der Tat ein wunderbarer Abend voller Freude und zaghafter Zuversicht, die Familie freute sich über das Wiedersehen, das im Wirrwarr des Krieges schier unmöglich erschien, über dieses unverhoffte Wiedersehen fernab der Heimat.

      Nachts um vier klopfte es an der Tür – fordernd, laut, herrisch.

      Als Elsa die Tür aufmachte, fiel sie beinahe in Ohnmacht: Vor ihrer Tür standen vier SS-Männer, einer von ihnen brüllte mit zum Hitlergruß erhobenem Arm: „Heil Hitler!“

      Es war die geheime Staatspolizei, die Gestapo, der unermüdliche Wächter über die innere Sicherheit des deutschen Reiches, bekannt für ihre Unerbittlichkeit, Unbarmherzigkeit, Rücksichtslosigkeit und Brutalität … Arthur wurde verhaftet und abgeführt. Ihm wurde „Zersetzung der Wehrkraft“ vorgeworfen – „öffentlich gehässige, hetzerische, von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über die NSDAP, den Staat und den Führer“.

      Liesel lief sich die Füße wund, klapperte alle in Frage kommenden Ämter und Stellen ab, bis sie endlich herausfand, dass ihr Arthur wegen Hochverrats zum Tod durch Erschießen verurteilt worden war. Mehr war nicht zu erfahren, so sehr sie sich auch abmühte.

      Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Heimreise anzutreten – allein, ohne Arthur.

      Sie ging ins dunkle Nichts, wo es keine Hoffnung, keine Zuversicht, keine Liebe gab, nur Dunkelheit, Bomben, Angst und Kälte …

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      Die Heimat erwartet euch, ihr Schufte!

       1948-1950. Magadan/Sowjetunion

      Verdammt! Ohne es zu wollen, hatte Hans seinen wundesten Punkt berührt, Erinnerungen an Dinge wachgerufen, an die er sich verboten hatte zu denken: an seine Zeit im Lazarett in dem malerischen Städtchen Fritzlar, an die zauberhafte Schwester Liesel mit ihren rehbraunen Augen und der blonden Mähne, an die heißen Nächte und zarten Küsse. An die Frau, die er liebte und heiraten wollte.

      Das tat nun wirklich weh, sehr sogar. Arthur sah seinen Freund wütend an und ließ dann den Kopf hängen. Tja, wo er recht hatte, hatte er recht. Hatte nicht viel geholfen, dieses Verdrängen, dieses Nichts-mehr-wissenwollen von der Vergangenheit – plötzlich war alles mit voller Wucht da, als hätte er erst gestern seine Liesel im Arm gehalten und zärtlich geküsst.

      Als er damals während dieses unseligen Besuchs bei seiner Familie in Litzmannstadt von der Gestapo abgeholt worden war, hatte man ihn zum Tod durch Erschießen verurteilt. Nach dem „Wieso“ und „Warum“ zu fragen, wäre müßig gewesen, eine Antwort hätte er sowieso nicht bekommen, nicht von der Gestapo. Arthur malte sich keine großen Chancen aus: Was er gesagt hatte, hatte er gesagt, das zu leugnen, war schlicht und ergreifend dumm, denn es gab eine Zeugin, die der Gestapo Bericht über sein „nicht arisches Benehmen und die frevelhaften Worte über den Führer“ erstattet hatte.

      Diese Zeugin war übrigens die Freundin seiner Mutter. Er stand also auf verlorenem Posten und wollte sich nichts vormachen. Aber da war doch noch Liesel, um die seine Gedanken kreisten, seine Liesel, die jetzt irgendwo draußen mutterseelenallein hilflos durch die feindselige, aus den Angeln geratene Welt irrte! Und er war an allem schuld, er hatte sie also doch ins Unglück gestürzt, wie ihr Vater immer prophezeit hatte. Arthur stöhnte vor Wut und Hilflosigkeit: Gab es denn wirklich keinen Ausweg?

      Als er sich wieder einmal in seiner Verzweiflung die Hände an der Betonwand blutig boxte, flog die Zellentür mit Wucht auf. An der Schwelle


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