Du, mein geliebter "Russe". Nelli Kossko
an die Wand zu stellen, wird er begnadigt! Nee …“ Der Gestapomann schüttelte den Kopf. „Die Gestapo ist heutzutage auch nicht mehr das, was sie mal war, nee!“
Im Büro angekommen wiederholte er: „Hörst du, du verdammter Schweinehund? Du bist begnadigt worden! Aber freu dich nicht zu früh: Statt gehängt oder erschossen zu werden, wirst du an die Front geschickt – da wird Kanonenfutter gebraucht! Du kommst an die vorderste Linie! Und das ist auch der sichere Tod, da kommt selten jemand lebend raus!“
Arthur kam heraus, fast heil kam er aus der Hölle heraus, nur eine Verletzung am Bein hatte er abbekommen. Er hatte unglaubliches Glück gehabt. Mit der Versprechung des aufsichtshabenden SS-Mannes, dies sei noch nicht das Ende der Geschichte, wurde er bald aus dem Lazarett entlassen, aber da war der Krieg auch schon zu Ende, und seine Einheit geriet in amerikanische Gefangenschaft.
Wieder einmal Schwein gehabt, denn man erzählte sich grauenhafte Geschichten vom Schicksal ehemaliger Sowjetbürger, die in die Hände der Russen gefallen waren. Arthur und seine zwei Landsleute, die er zufällig im Lazarett getroffen hatte, hofften, diesem Schicksal mit Hilfe der Amerikaner zu entkommen.
Doch die Sowjets machten ihnen einen dicken Strich durch die Rechnung, das heißt, nicht nur sie allein: Die vertragliche Grundlage für die Auslieferung der Personen, die von der UdSSR als ihre Staatsbürger deklariert wurden, war das Abkommen von Jalta, das die Überstellung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter an die Rote Armee vorsah. Sicher wussten die Amerikaner, was sie da taten, doch wähnten sie die repatriierten Gefangenen auf dem Weg in ihre angestammte Heimat.
Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Den Opfern zweier Diktaturen wurden nach stundenlangen Verhören in Sammellagern im Eilverfahren ihre Urteile verkündet. Es gab eigentlich nur drei Urteile: Todesstrafe, 25 Jahre Straflagerhaft und Verbannung auf ewige Zeiten. Wie, wieso und warum, wusste keiner, und niemand hielt es für notwendig sich, sie darüber aufzuklären.
Die russischen Repatriierungsoffiziere beherrschten ihr Handwerk und brachten ihre Opfer mit ausgeklügelten Methoden fast um den Verstand: Die Jungs sollten zugeben, dass sie sich freiwillig zum Dienst bei der deutschen Wehrmacht gemeldet hätten. Manche hielten nicht stand und gaben alles zu, was man von ihnen verlangte. Daraufhin verschwanden sie aus dem Lager, und keiner wusste, wohin. Arthur und seine Freunde beharrten auf der Wahrheit und wollten auf keinen Fall ihre Aussagen ändern, selbst dann nicht, als die sowjetischen Militärs härtere Register zogen. Arthur hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass, wenn er schlapp machen und unter Druck die Forderung der Militärs erfüllen würde, sein Ende besiegelt war.
Er hatte seit der Verurteilung durch die Gestapo damals in Polen immer wieder nach einer Möglichkeit gesucht, Liesel ein Lebenszeichen von sich zu geben, damit sie zumindest wusste: Er ist am Leben. Das war aber ein Ding der Unmöglichkeit, denn er hatte schon seit Langem keine Verbindung mehr zur Außenwelt: Zuerst ließ ihn die Gestapo nicht aus den Augen, dann ihr sowjetisches Ebenbild, der NKWD. Die wenigen Zivilisten, die es ihm gelungen war anzusprechen, zuckten bedauernd mit den Schultern und eilten mit eingezogenen Köpfen davon.
Bald hieß es, man würde die Gefangenen in die Heimat bringen, kurz darauf kam der Befehl, sich reisefertig zu machen.
Einen Tag später ging es los: In aller Eile wurde der erste Transport zusammengestellt und in Güterwaggons verladen, 45-50 Mann pro Waggon. Die Rotarmisten lachten, scherzten und wiederholten immer wieder: „Nach Hause! Nach Hause!“ Auch so mancher Gefangene versuchte ein Lächeln, doch Arthur gefror das Blut in den Adern, als er das Transparent an der Front der Lokomotive las: „Rodina schdjot was, njegodjai!“ („Die Heimat erwartet euch, ihr Schufte!“)
Sie bekamen pro Waggon einen Eimer Graupen und einen Eimer Wasser zugeteilt, auch einen Eimer Kohle für den runden eisernen Ofen in der Mitte des Waggons. Das war alles. Doch nein, es gab noch Stroh auf dem Boden, mit dem sich ein Schlaflager herrichten ließ.
Als der Transport nach anderthalb Monaten in Wladiwostok, der größten sowjetischen Hafenstadt am Stillen Ozean, ankam, bot sich den Eisenbahnern ein Bild des Grauens: Aus den Waggons quälten sich Hunderte von halbverhungerten, bis auf die Knochen abgemagerten Gestalten, verlaust und verdreckt. Arthur sah das Entsetzen in den Augen der Hafenarbeiter: Sie sollten Gefangene, Faschisten, an Bord eines Frachters bringen, hieß es, doch das hier waren Gespenster, lauter halbtote Kreaturen, die jede Minute verenden konnten.
Die Gefangenen, die nach der endlosen Fahrt von einem Ende des Riesenlandes zum anderen erstmals festen Boden unter den Füßen spürten und den blauen Himmel, die gleißende Sonne, die grünen Bäume und das graue Meer sahen, weinten vor Freude und taumelten vor Glück. Bevor man die elenden Gestalten im Laderaum des Frachters „verstaute“, führte man sie in Kolonnen ins Badehaus, desinfizierte die Lumpen, die ihnen als Kleidung dienten, gab jedem einen Napf mit lauwarmer dünner Graupensuppe und Verpflegung für die bevorstehende Seereise nach Magadan: sieben Heringe und einen Laib Brot. Das sollte für die siebentägige Reise reichen.
„Hör mal, hast du denn nichts mehr von deiner Liesel gehört?“, fragte Hans seinen Freund zum wiederholten Mal. „Hey, Arthur, ich hab dich was gefragt!“ Hans stupste seinen Freund vorsichtig an. „Schläfst du etwa?“ „Nee, ich bin wach.“ Arthur war mit seinen Gedanken in der Vergangenheit, wollte noch ein wenig bei den Bildern verweilen. Doch Hans …
„Was wolltest du wissen, Hans? Du hattest mich doch etwas gefragt?“
„Und ob ich dich etwas gefragt habe.“ Hans‘ Tonfall klang beleidigt. „Und das nicht nur ein Mal. Ich wollte nämlich wissen, ob du etwas von deiner Verlobten, deiner Liesel, gehört hast. Weiß sie etwas von dir, weißt du was von ihr?“
Wieder der stechende Schmerz in der Brust: Musste der Kerl immer wieder in der Wunde herumstochern?! Was hatte er denn davon? Doch laut sagte Arthur mit ruhiger Stimme: „Ich kann nur hoffen, dass sie heil nach Hause gekommen ist. Sie aber wird glauben, dass ich erschossen wurde. Ich hatte keine Möglichkeit, ihr zu sagen oder zu schreiben, dass ich am Leben bin!“
„Ist vielleicht auch besser so“, meinte Hans traurig, „denn wenn sie wüsste, was wir alles hinter uns haben …“
„… und was uns noch alles bevorsteht“, setzte Arthur seinen Gedanken fort.
Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann fragte Hans in die Stille: „Was meinst du, was haben die mit uns vor? Und was sollen das für Lehrgänge sein?“
„Mir soll’s egal sein.“ Arthur gähnte gelangweilt. „Ich melde mich höchstwahrscheinlich zum Buchhaltungskurs an.“
„Toller Beruf! Vor allen Dingen so romantisch“, meinte Hans ironisch. „Was Besseres fällt dir wohl nicht ein?“ „Dafür brauch ich mir dann aber nicht mehr den Hintern abzufrieren, die drei Winter in Sussuman haben mir vollkommen gereicht: Mir schien manchmal, dass nicht nur meine Glieder steif vor Kälte, sondern dass auch all meine Sinne und das Gehirn erfroren waren. Das hält kein Mensch durch!“
Hans schwieg betreten. „Aber Magadan scheint schon ein besserer Ort in dieser Hölle zu sein,“ gab er dann zu bedenken. „Hast du es bemerkt? Hier ist es draußen viel wärmer als in Sussuman, heute sind es vermutlich nur minus 30 Grad Celsius …“
„Sussuman liegt ja auch 800 Kilometer weiter nördlich, nur ‚schäbige‘ 400 Kilometer von Oimjakon entfernt! Und das, mein Lieber, ist der Ort, der mit einer Tiefsttemperatur so an die minus 65-67 Grad als der Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde gilt.“
„Das glaub ich dir nicht! Woher willst du das wissen?“ Hans starrte seinen Freund ungläubig an. „Aus den Büchern, mein Freund, aus den Geografiebüchern! Hast du in der Schule gepennt?“, amüsierte sich Arthur. „Das hätte ich nicht gedacht!“ Hans war perplex. „Da krieg ich ja im Nachhinein noch einen Schrecken, wenn ich bedenke, wo wir drei Jahre lang geschuftet haben! In der Hölle, in der Eishölle! Du liebes bisschen!“ Hans schaute so verdattert drein, dass Arthur lachen musste: „Halb so schlimm, Kamerad, halb so schlimm! Vielleicht ändert sich ab jetzt einiges. Und was auf uns zukommt? Schlimmer, als es bisher war, kann es nicht kommen, und jede