Du, mein geliebter "Russe". Nelli Kossko

Du, mein geliebter


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Befehle in die eisige Luft: „Achtung! Stillgestanden! Und Marsch-Marsch! – in die Unterkünfte!“

      Die graue Masse der Gefangenen beeilte sich wegzukommen, strebte auseinander und strömte in alle Richtungen, um dann wie Sand in den Baracken zu versickern. Zurück blieben der Leutnant mit seinen Soldaten und die drei Freiwilligen. Das kleine Grüppchen strebte dem Lagertor entgegen, allen voran der Leutnant, gut eingepackt in einen langen warmen Schafspelz und Filzstiefel, ihm folgten die drei Gefangenen in zerlumpter Wehrmachtsuniform mit zerschlissenen Decken um die Schultern und ungeheuerlicher Fußbekleidung sowie einer Kopfbedeckung aus alten Lappen, die ans Absurde grenzte. Die Jungs bewegten sich nur mit größter Mühe fort, hatten Schwierigkeiten, dem starken eisigen Wind standzuhalten, der gnadenlos auf sie einpeitschte, und kamen durch die dünne Luft außer Atem, die in diesen Breiten bei 45-50 und mehr Grad Minus keine Seltenheit war. Von den Wachsoldaten, die hinter ihnen marschierten und sie im Visier ihrer Maschinenpistolen hielten, und deren Wachhunden nahmen sie keine Notiz – Gewöhnungssache: Hunde gehörten wie auch das Tor, dem sich die kleine Gruppe näherte, schon seit nunmehr drei Jahren zu ihrem Alltag.

      Das Tor des Lagers, das mit dreifachem Stacheldraht umzäunt und mit zahlreichen Wachtürmen bestückt war, dieses Tor in die freie Welt, wie man meinen könnte, war den dreien hinlänglich bekannt. Jeden Morgen schlängelte sich hier eine endlose Raupe von Hunderten vermummter Gestalten hindurch, die sich in Begleitung von Wachhunden und Soldaten langsam in Richtung Goldmine wälzte und dann von ihr geschluckt wurde, um am späten Abend, ausgemergelt und kraftlos, wieder ausgespuckt zu werden. Was erwartete sie wohl heute dahinter?

      „Nun, was bringst du uns diesmal vorbei?“ Der Mann hinter dem Fensterchen der Durchgangsstelle am Tor blätterte gutgelaunt in den Papieren, die ihm der Leutnant durchgereicht hatte.

      „Das heißt nicht ‚was‘, sondern ‚wen‘“, korrigierte ihn dieser mürrisch, worauf der Spaßvogel hinter der Glasscheibe zu bedenken gab:

      „Das sind doch keine Menschen, die Bestien hier, diese Deutschen.“ Und, an die Jungs gewandt, meinte er höhnisch:

      „Euch blüht, wie ich ahne, eine schöne Überraschung, das habt ihr auch verdient – alle, bis auf den letzten Deutschen werden wir ausmerzen! Ich werde vor Lachen verrecken, wenn ich den letzten Deutschen hängen sehe!“

      Der verdutzte Leutnant riss ihm fast die Papiere aus der Hand: „Du hast wohl heute nicht genug gesoffen, he?“ Dann befahl er seinem Trupp weiterzugehen.

      Am Gebäude der Verwaltung blieben sie erneut stehen, und die Soldaten meldeten sich beim Offizier ab. Von quälender Ungewissheit und zermürbender Angst hin- und hergerissen, traten die Häftlinge aus der grimmigen Kälte durch die offene Tür und glaubten, im Paradies gelandet zu sein. Diese Wärme …, die behagliche, wohltuende Wärme, in die die vermummten Gestalten so unerwartet eintauchten, trieb ihnen Tränen in die Augen, die sie am liebsten geschlossen gehalten hätten, damit der Spuk nicht verrauchte.

      Doch nein, der Leutnant meldete seinem Vorgesetzten, er wäre zur Stelle und wolle Meldung erstatten: Er hätte den ihm aufgetragenen Befehl ausgeführt und die Freiwilligen zugestellt.

      Eine Zeit lang passierte gar nichts, doch den „zugestellten Freiwilligen“ war dies mehr als recht: Mit der behaglichen Wärme, ja, Hitze im Raum kehrte wieder Leben in ihre ausgemergelten, steifen Körper zurück, sie tauten auf, lächelten einander zögernd an, und auf ihren Gesichtern stand mit riesigen Lettern die zaghafte Frage geschrieben: Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm? Sie wollten daran glauben, o Gott, wie gern sie doch daran glauben wollten! Ein ganz schwaches Gefühl der Geborgenheit keimte in ihnen, langsam und zögernd, ein kleines Flämmchen Hoffnung loderte auf, sie aber verschlossen sich mit aller Gewalt dieser Versuchung, denn zu oft waren sie heimtückisch betrogen, aufs Eis geführt, verraten und verkauft worden.

      Arthur hätte ein Lied davon singen können, ein langes, trauriges Lied. „Aber jetzt, jetzt nicht daran denken!“ Er nahm sich zusammen und wischte sich verstohlen das Nass aus den Augen. Sein Blick fiel auf Hans und den neuen Kumpel, der sich zuvor als Robert vorgestellt hatte. Auch sie saßen da wie bestellt und nicht abgeholt, wussten nicht, wie ihnen geschah, rätselten ganz bestimmt darüber, was das alles zu bedeuten hatte und bangten der nächsten Stunde entgegen.

      Diese schlug auch schon bald, als aus einem der Zimmer ein untersetzter Uniformierter, ein Oberst, herauskam, der ihre Namen aufrief, einen nach dem anderen: „Gerber! Malsam! Hermann!“ Die Jungs sprangen auf und starrten den Bulligen an, als hinge ihr Leben von ihm ab. In gewisser Weise war es auch so, und der Bullige kostete seine Macht über die Häftlinge in seinem Lager auch gern voll und ganz aus. Jetzt aber hatte er es eilig: Aus der Hauptverwaltung des Gulag in Magadan war der Befehl eingetroffen, wegen des Fachkräftemangels Häftlinge mit Abitur auszusortieren und zu Ausbildungslehrgängen in die Zentrale zu schicken. Man brauchte Standardisierer, Vermesser, Buchhalter, Facharbeiter in den Kraftwerken und Kohlegruben, auf den Goldfeldern und in den Uranminen.

      „So, und nun …“ Der Oberst legte eine längere Pause ein und schaute auf seine Uhr am Handgelenk. „In einer Stunde kommt der Laster, der euch nach Magadan bringt.“ Er sah die Häftlinge eine Weile unverwandt an und genoss sichtlich den Horror, der sich auf ihren erstarrten Gesichtern abzeichnete: Im Laster? 800 Kilometer weit? Bei Minus 45-50 Grad? Das war der sichere Tod durch Erfrieren!

      Doch dann ließ der Oberst Gnade walten: „Habt euch schon in die Hosen gemacht, wie? Halb so schlimm, die ganze Sache. Es ist ein Laster mit Deckplane und einem kleinen Kanonenofen drin, der unentwegt geheizt werden muss. Also wird es von euch abhängen, ob ihr in der weißen Einöde erfriert oder lebend in Magadan ankommt!“ Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter der Tür.

      Die drei sahen einander ratlos an – und nun? Sollte das ihr Ende sein? Oder vielleicht doch nicht? Würden sie diese Etappe ihrer unfreiwilligen Irrfahrt durch die aus den Fugen geratene Welt auch noch bewältigen können?

      Es gab praktisch wenig Chancen, aber auch keinen Ausweg, außer sich zu fügen und auf Gott zu vertrauen. „Amen!“, sagte Robert plötzlich, als hätten alle drei das Gleiche gedacht und er damit einen Strich, einen dicken, fetten Strich, unter ihrem neuen unfreiwilligen Abenteuer ziehen wollen.

      „Leider“, fuhr er traurig fort, „haben wir uns von unseren Kameraden nicht verabschieden können. Ob wir uns in diesem Leben je wiedersehen werden?“

      Plötzlich hupte draußen ein Auto. Laut, schroff und ungeduldig. „Das könnte unser Laster sein!“ Hans lief zum Fenster: „Scheint so, der Fahrer fuchtelt wie wild mit den Armen, gibt Zeichen. Na, dann wollen wir mal, Leute. Und bringt eure Kleidung in Ordnung!“ Trotz des Ernstes der Lage mussten sie über den letzten Satz lachen, aber wo Hans recht hatte, hatte er recht: Ein Teil der Lappen musste fester um den Kopf gewickelt werden, der andere um die Füße, auch die Decken wollten gekonnt fest um die Schultern gelegt werden. Dann begab sich das Himmelfahrtskommando nach draußen und bestieg den Laster.

      Hier gab es einige Überraschungen: Der Ofen war angezündet und schon glühend heiß, in einer Ecke fanden sie Steinkohle in rauen Mengen, in der anderen Proviant in viel bescheideneren Mengen: jeweils ein Brot pro Person, 10 Salzheringe, eine Tüte mit Graupen, ein Säckchen voll getrockneter Kartoffeln und ein kleines Päckchen Salz. Ein Teekocher, drei Blechschüsseln und drei Aluminiumlöffel waren auch dabei.

      Alles in allem war es ziemlich zufriedenstellend: Wenn die Reise ohne unverhoffte Hindernisse verlief, würde sie mindestens drei Tage lang dauern, dann würden die Vorräte halbwegs reichen – man war ja nicht gerade verwöhnt worden in den letzten Jahren! Doch was, wenn etwas schiefging, und schiefgehen konnte vieles. Was dann? Es war hier keine Seltenheit, dass Menschen unterwegs wegen eines lächerlichen Motorschadens oder eines plötzlichen Erdrutsches erfroren, weil es keine Möglichkeit gab weiterzukommen.

      Die drei Häftlinge hatten leider keine Wahl, sich für oder gegen diese Reise zu entscheiden, und so fuhr der Laster nach dem Kommando „Auf geht’s!“ vom Gelände des Lagers und nahm Kurs auf Magadan, die Hauptstadt des Planeten der Gefangenen.

      Die Reise führte über die einzige Straße, die berühmt-berüchtigte


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