Du, mein geliebter "Russe". Nelli Kossko
er kannte Arthurs unbeugsamen Willen: Wenn der etwas gesagt hatte, hielt er sich eisern daran.
In der Nacht wälzte sich Hans auf seiner Pritsche hin und her und fand keinen Schlaf: Was würde ihnen wohl der nächste Tag bringen? Diese ständige Ungewissheit konnte einen in den Wahnsinn treiben, besonders, wenn man, wie in ihrem Fall, keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge hatte. Andererseits konnte eigentlich nichts schiefgehen, denn schlimmer als zuvor … Konnte es denn noch schlimmer werden?
Er erinnerte sich daran, wie sie vor drei Jahren nach monatelanger Reise in einem Transport mit Kriegsgefangenen im Magadaner Hafen Nagajewo angekommen waren: Hungrig, verlaust und verdreckt wurden die Häftlinge in ihrer verschlissenen, zerlumpten Kleidung auf offene Lastwagenanhänger verladen und in die 700 Kilometer nördlich gelegene Siedlung Sussuman gebracht.
Sie glaubten, auf der Fahrt in die Hölle zu sein: Es war Spätherbst und schon ziemlich kühl, der Regen wollte und wollte nicht aufhören, der eisige Wind peitschte unbarmherzig auf sie ein, und es gab kein Entkommen. Hans musste immer wieder darüber staunen, wie viele Entbehrungen ein Mensch aushalten, wie viel Leid und Kummer er ertragen kann. Denn nur wenige hatten sich bei dieser Horrorfahrt erkältet, keiner war draufgegangen. Ein Wunder!
Die Häftlinge wurden auf verschiedene Lager rund um die Siedlung verteilt, Hans und Arthur durften – Gott sei Dank! – zusammenbleiben.
Der Anblick des Lagers, in das sie gebracht wurden, war mehr als gewöhnungsbedürftig: Von einem dreifachen Stacheldrahtzaun umgeben und mit zahlreichen Wachtürmen versehen, lag das Prachtstück auf einer kahlen Anhöhe, gut einsehbar von allen Seiten. Kein Baum, kein Busch, kein Gebäude in der Nähe – das erleichterte den Wachposten ihre Arbeit und ließ die Gefangenen nicht auf abwegige Gedanken kommen. Obwohl jeder Mensch, der bei klarem Verstand war, sofort erkennen musste, dass eine Flucht aus diesem Lager, überhaupt aus dieser Gegend, unmöglich war.
Noch am Tag der Ankunft wurden ihnen nach einem kurzen Appell Werkzeuge zugeteilt. Jeder bekam einen Spaten, eine Spitzhacke, ein Brecheisen und eine Schubkarre.
„Das hier“, sagte der Lagerleiter, „ist die Ausrüstung eines Goldgräbers, denn von nun an werdet ihr beim Goldschürfen eingesetzt, und wehe, wenn ihr die Normen nicht erfüllt! Dann gibt es Strafen.“
„Herrje!“, meinte Hans entsetzt beim Anblick dieser Ausrüstung. „Das ist ja Werkzeug aus dem Mittelalter!“ Er sah seinen Freund fassungslos an, als erwarte er von diesem wirklich eine Erklärung. „Und damit gewinnen die hier Gold?!“, ließ Hans nicht locker.
„Du, Hans!“ Arthur dämpfte die Stimme, so gut es ging. „Wollen wir, wenn die anderen dabei sind, nicht Russisch reden? Mir scheint, wir sind hier schon von Anfang an durch unsere Fremdartigkeit aufgefallen. Hast du denn die argwöhnischen, bisweilen bösen Blicke nicht gesehen, die uns die anderen zuwerfen, wenn wir Deutsch reden?“
„Was hat denn unser Deutsch mit der Feindseligkeit zu tun? Hier sind doch alle Häftlinge wie du und ich.“ „Das schon, aber sie sind Russen“, fiel ihm Arthur ins Wort. „Russen, deren Land von Deutschland überfallen wurde. Was Wunder, wenn sie in jedem Deutschen einen Feind, einen Erzfeind, sehen.“
„Tja, noch eine Belastung mehr“, murmelte Hans, „als ob es nicht ohnehin schon genug gewesen wären.“ Diese Entscheidung fiel beiden schwer, denn Russisch war eben nicht ihre Muttersprache und wenn sie sprachen, war der verräterische Akzent nicht zu überhören.
Doch die Vorsichtsmaßnahme war überflüssig: Die Insassen des Lagers waren fast ausschließlich politische Häftlinge, und diese wussten sehr wohl zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie hießen die Neulinge willkommen „im sowjetischen Eldorado“, dem Ort mit den größten Goldvorkommen und den meisten Straflagern in der UdSSR, boten ihre Hilfe an, gaben ihnen nützliche Ratschläge.
Ob sie etwas zu tauschen hätten, wollte ein untersetzter Mann mit Vollbart und gütigen, aber wachsamen Augen wissen. Da die beiden offensichtlich nicht verstehen konnten, was er von ihnen wollte, wurde der Mann deutlicher: „Ich meine, so wie ihr da ausstaffiert seid, werdet ihr den Winter nicht überleben – diese lächerlichen Schuhe, die zerfetzten leichten Jacken und die Käppis könnt ihr vergessen. Hoffentlich habt ihr etwas Brauchbares, Nützliches, das ihr gegen haltbare, robuste Sachen eintauschen könnt. Sehr gefragt sind auch allerlei interessante Dinge, wie Uhren, Herrenringe, Kettchen, Feuerzeuge und Ähnliches.“
Jetzt verstanden die beiden, was los war, und überlegten fieberhaft, was sie dem Mann anbieten konnten. Als hätte dieser ihre Gedanken erraten, sagte er breit grinsend: „Wir hier haben nichts anzubieten, aber die Kriminellen in der Nachbarbaracke betreiben regen Handel, bei denen kann man sogar Lebensmittel gegen Wertsachen bekommen. Ich heiße übrigens Pawel.“ Sein Blick fiel auf Arthurs Verlobungsring: „Na, wer sagt’s denn! Das ist ja schon was!“
„Kommt nicht in Frage!“ Arthur vergrub hastig die Hand mit dem Verlobungsring in seiner Tasche. „Nee, da müsst ihr mir schon die Hand abhacken, ehe ich den Ring hergebe!“
Er kramte in seinem Rucksack, und zum Vorschein kamen zwei Hemden, ein Paar Socken, eine lange Unterhose, ein Handtuch, Rasierzeug, Zahnpasta und eine Zahnbürste. Das alles breitete er auf einer der Pritschen aus, legte seine Armbanduhr dazu und nach kurzem Zögern auch noch die Mundharmonika. Das Gleiche tat auch Hans mit seinen Siebensachen.
Pawel sah sich die Sachen an, murmelte: „Nicht überwältigend“ und ging, wie er sagte, zu den „Wohlhabenden, den Reichen“, in die Baracke der Kriminellen. Es dauerte nicht lange, da kehrte er mit einem komischen Kauz zurück. Eigentlich war es ein gewöhnlicher, etwas schlaksiger Mann mittleren Alters, doch alles an ihm erschien so seltsam, dass er unwillkürlich die Blicke auf sich zog: Er ging nicht, er tänzelte regelrecht auf seinen viel zu langen, Stelzen ähnelnden Beinen in die Baracke, sein Körper vollführte wellenartige Bewegungen, als ob er damit wedelte wie ein Hund mit dem Schwanz, die Schlitzaugen mit dem stechenden Blick schienen keinen der Anwesenden anzuschauen, und trotzdem konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er alle und alles im Auge behielt.
„N‘Abend, allerseits!“ Er tippte mit zwei Fingern an sein schmieriges Käppi und beobachtete die Runde aus den Augenwinkeln. „Ein Neuzugang?“
Als die Jungs nickten, fuhr er fort: „Willkommen im sonnigen Kolyma!“ und wieherte wie ein Hengst über seinen eigenen Witz. „Habt ihr was anzubieten?“ Der Kriminelle gab sich scheinbar gleichgültig.
Noch ehe Arthur oder Hans antworten konnten, baute sich Pawel vor den Sachen auf: „Du wirst mit mir verhandeln müssen, klar?“ und trat zur Seite.
„Und was genau wollt ihr da verkaufen?“ Der Zappelige bemerkte die Uhren und konnte seinen Blick nicht mehr von ihnen wenden. „Was verlangst du dafür? Für beide Uhren?“ Pawel überlegte nicht lange: „Brauchbare warme Kleidung, ordentliches Schuhwerk und Mützen mit Ohrenklappen für beide!“ Als der Kriminelle empört zu sprechen ansetzte, schnitt ihm Pawel barsch das Wort ab: „Du bist hier nicht auf dem Basar. Es gibt ja außer dir noch andere Interessenten. Entweder du schlägst ein oder …“
„Schon gut, lass uns verhandeln.“ Der Kriminelle sah seine Felle davonschwimmen und wurde zappelig. Nach langem Hin und Her verschwand der Schlaksige, um bald darauf mit zwei Kumpanen zurückzukehren, die einige Kleiderbündel in die Baracke schleppten. Es waren alles alte, getragene Kleidungsstücke, und Pawels Freunde mussten sich Mühe geben, um aus den Bündeln brauchbare Sachen auszusortieren. Sie begutachteten sorgfältig jedes Stück, ehe sie es zur Seite legten. Danach konnte der Handel stattfinden: für zwei Wattehosen, zwei Wattejacken, zwei paar robuste Halbstiefel und zwei Ohrenmützen boten sie dem Käufer zwei Uhren und eine goldene Herrenkette an. Der schien nicht ganz zufrieden zu sein, tastete mit unstetem Blick gierig die restlichen Sachen auf der Pritsche ab. Als er der Mundharmonika gewahr wurde, hellte sich sein Gesicht auf. „Heureka!“, rief er erfreut und streckte die Hand nach ihr aus. Doch er hatte nicht mit Pawels Standhaftigkeit und seiner zähen Verhandlungskunst gerechnet.
„Du bekommst sie, wenn du noch zwei warme Schals drauflegst!“, meinte Pawel warnend. Das Zähneknirschen des Schlaksigen war nicht zu