Der Moment der Stille. Julia Thurm
teilen würde. Für einen kurzen Moment darf ich mich lebendig fühlen.
Das ändert sich nun, es heißt, Abschied nehmen von diesem befreienden Gefühl. Sechs Monate ist eine lange Zeit und dies ist erst die Hälfte. Dunkle Gedanken steigen wieder in den Kopf. So lange bin ich schon hier und meine Berggeister verfolgen mich noch immer. Langsam öffne ich meine Augen und erstarre wieder einmal fast vor Schreck, als Rachel und Drake wie Zombies vor mir stehen. Beide tragen die Kleidung, die sie trugen, als sie starben. Mein Herz rast, es schlägt mir bis zum Hals. Ich wende den Blick ab, stütze meine Ellbogen auf die Knie und nehme meine Hände vor das Gesicht.
„Lasst mich bitte in Ruhe. Bitte“, sage ich leise.
Der Anblick der beiden ist nur schwer zu ertragen. Die Wunde, die Rachel und Drake in mir zurückließen, hört gerade auf zu pochen und zu bluten, da fassen die beiden erneut hinein. Ein paar Minuten lang bleibe ich so sitzen, dann hebe ich langsam mein Haupt. Sie sind weg. Es ist wie Folter, dies immer und immer wieder auszuhalten zu müssen. Vorbei mit der Idylle und dem guten Gefühl. Ich stehe von der Bank auf und gehe den Weg zurück, da ich zur Einzeltherapie nicht zu spät kommen sollte.
„Wie fühlen Sie sich heute, Ms. Smith?“
„Nicht so gut“, sage ich bedrückt und mit gesenktem Kopf.
„Erzählen Sie mir davon“, sagt er erwartungsvoll, mir mit überkreuzten Beinen gegenübersitzend. Stift und Block hält er in den Händen, als würde er in den Startlöchern eines Marathons stehen und auf mein Zeichen warten, loszuschreiben. Wie jedes Mal ringe ich mit mir und der Frage: „Wie erzähle ich das nur?“
Nach kurzer Stille.
„Sie verfolgen mich immer noch. Heute Morgen, da habe ich … da habe ich die beiden sogar im Park gesehen. Sie standen einfach vor mir.“
„Wie sahen sie aus? Beschreiben Sie mir die beiden.“
„Sie sehen aus wie jedes Mal. So leer und tot, mit zerrissener Kleidung. Sie starren mich an. Ihre Gesichter sind so klar und deutlich zu erkennen, als wären sie wirklich da. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich sie sehe.“
„Was genau fühlen Sie?“
„Schuld.“
„Sprechen Sie mit den beiden oder warten Sie einfach nur ab?“
Ich schaue ihn an. „Ich spreche nicht mit ihnen, nein. Ich flüstere nur, dass sie verschwinden sollen. Es fällt mir schwer, diese Flashbacks auszuhalten. Auch wenn Sie sagen, dass ich das tun soll. Es ist … es ist einfach so verdammt schwer“, gestehe ich bereits mit einem Kloß im Hals.
Mein Therapeut nickt und notiert sich etwas.
Nervös reibe ich meine Hände aneinander. Voller Anspannung, was er nun sagen wird.
„Wieso stoßen Sie die beiden ab?“
„Sie wissen, wieso ich das tue“, antworte ich gereizt und in dem Bewusstsein, dass er mich nun genau da hat, wo es wehtut, wo es schwer wird, eine Maske zu tragen.
„Weil es schmerzt“, antwortet er.
In meinem Kopf sieht meine Antwort anders präziser aus. Seit einmal halben Jahr komme ich bei jeder Sitzung an diesen Punkt. Ich habe noch nie laut ausgesprochen, dass ich das Gefühl habe, Rachels Familie die Tochter genommen zu haben oder zahlreichen anderen Menschen ein geliebtes Familienmitglied. Ich habe meinem ersten Freund in den Kopf geschossen, weil ich sonst alles verloren hätte. Aber dies ist keine Erleichterung oder ein Gefühl, das Richtige getan zu haben. Ich wollte nur Frieden. Frieden mit mir, in mir. Damit zurechtkommen, dass ich meine Eltern verloren habe und dass diese Kette, die ich fand, ein kleiner Trost war, an den ich mich klammern konnte. Ich wollte nie, dass irgendwer meinetwegen stirbt. Doch das ist passiert und diese Last frisst mich auf, lässt nicht viel von mir übrig. Tränen laufen mir über die Wangen.
„Ich kann das nicht, verstehen Sie“, zittert meine Stimme.
„Ms. Smith, Sie sollten versuchen, das, was Sie fühlen, auch zuzulassen und dabei sollten Sie nicht vergessen, dass es in Ordnung ist, Schuld, Trauer oder auch Wut zu empfinden. Sie lehnen all diese Gefühle ab, weil es schwer ist, sich damit auseinanderzusetzen. Es kostet Kraft und viel Zeit, aber nur so können Sie Ihr Trauma überwinden. Indem Sie es annehmen und nicht verstoßen. Sehen Sie es als ein Teil von sich an. Nicht als einen Fremdkörper.“
Tief atme ich ein und nicke, weil ich zwar weiß, dass das, was er sagt, logisch klingt, aber Praxis und Theorie sind meist wie Zwillinge – auf den ersten Blick gleich, doch bei genauer Betrachtung sehr verschieden. Quälend stelle ich mir die Frage: Wie lernt ein Mensch, etwas zu akzeptieren, das nicht in seiner Macht stand? Und jeder einzelne Schritt, etwas daran zu ändern, ihn genau in diese Richtung führt. Es ist ein Kreislauf. Jeden Tag wiederholt sich alles, jeden Tag versuchen Psychologen, mir zu helfen. Wie kann eine außenstehende Person mich verstehen wollen, wenn ich mein Innerstes selbst nicht begreife?
*
Veränderung
Die Blüten des Kirschbaumes sind verblüht. Ein letztes Mal wird der Wiese ein neuer Haarschnitt verliehen, bevor das weiße Pulver sie in ganzer Hülle ummantelt. Die Kinder der Entenfamilie sind nun von den Eltern kaum zu unterscheiden. Sie machen sich bereit, um aufzubrechen in ihr eigenes Leben. Nicht nur der Sommer muss sich verabschieden. Ich sitze auf dem Bett und betrachte von meinem Fenster aus, die fallenden Blätter der Bäume. „Ein Jahr“, wiederhole ich immer wieder in Gedanken. Ein Jahr, in dem ich eine andere Seite des Lebens kennengelernt habe. Ich lernte Menschen kennen, die ebenfalls ein schweres Paket mit sich tragen. Aber ich lernte auch eine Seite kennen, die mir zeigte, dass ein Jahr nicht reicht, um mit all dem Geschehenen zurechtzukommen. Jedoch auch, dass es in Ordnung ist, dies noch nicht zu können.
Das Trauma hat sich in den zurückliegenden sechs Monaten verändert, es hat mich verändert. Ich lebe nun mit meinen Dämonen. Drake und Rachel begleiten mich seit geraumer Zeit häufiger. Wie kleine Mäuse schleichen sie sich in meine Gedanken. Egal, zu welcher Tageszeit das auch sein mag, ob ich schlafe oder ob es eine Mahlzeit ist, die ich einnehme, diese Seelen schließen sich allem an, was ihnen Freude bereitet. Auch in diesem Augenblick sitzen sie neben mir und betrachten mich wie eine Dokumentation auf ARTE. Sie betrachten mich immer aus bestimmten Blickwinkeln heraus. Ich empfinde es als herablassend und wütend auf meine Wenigkeit. Doch ihre Mimik ist nichtssagend. Auch wenn das Gefühl der Schuld jedes Mal im Herzen einen neuen Kratzer hinterlässt, kann ich es zulassen, es aushalten, dass sie da sind. Unzählige Therapiestunden, die ich damit verbrachte, genau dies zu lernen. Es ging hier in der Klinik nie um das Loswerden. Sondern darum, damit leben zu können. Den Rest schaffe ich hoffentlich aus eigener Hand. Ich betrachte das Armband an meinem Handgelenk. Ab morgen werde ich von dieser Fessel befreit. Bin ich bereit dafür? Eine Frage, die mir auch mein Seelendoktor, an diesem Morgen gestellt hat.
„Ich weiß es nicht, in zwölf Monaten kann viel passieren. Vieles da draußen kann sich verändert haben und vieles hier drinnen auch“, war meine nachdenkliche Antwort. „Was ist, wenn ich mit meiner neuen Umwelt nicht zurechtkommen werde?“ Besorgt sehe ich ihn an.
Schmunzelnd leg er seine Brille zur Seite und beugt sich zu mir. „Seien Sie offen für Neues und denken Sie daran, dass Sie das, was Sie fühlen, zulassen und Veränderungen annehmen. Das ist die beste Vorbereitung, die Sie treffen können“, lächelte er.
In seinen Augen sah ich heute Morgen Zuversicht. Er glaubt an mich, mehr als ich es selbst tue. Aber das ist ja auch nicht schwer. Ich stehe von meinem Bett auf und gehe zu meiner Kunstmappe, die man mir heute mitgegeben hat. Als ich sie öffne, springt mir sofort das Bild der letzten Stunde ins Auge.
Ich malte ein Bild, mit kräftigen Farben, auf dem ein Meer oder ein großer Fluss zu sehen ist und dahinter die untergehende Sonne. Am Ufer sitzt ein Mädchen, sie trägt ein weißes Sommerkleid. Der Wind weht durch den leichten Stoff und lässt es durch die Luft tanzen. Sie lächelt und erfreut sich am Sonnenuntergang. Ihr Körper