Der Moment der Stille. Julia Thurm

Der Moment der Stille - Julia Thurm


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ich erneut. In meinen Gedanken versunken, bemerke ich erst im letzten Augenblick, dass ich nun am Ausgang der Klinik stehe. Davor haben sich alle versammelt – meine Kunsttherapeutin, mein Psychologe und ein paar Patienten, mit den ich hin und wieder mal eine Unterhaltung geführt habe. Aber auch die Person, die mich in meinen schlimmsten Zuständen erlebt hat. Eve. Meine Nachtbetreuerin, meine beste Freundin in diesem Jahr. Sie hält einen Blumenstrauß mit gelben und orangen Dahlien in den Händen und kämpft sichtlich mit den Tränen. Das alles hier erfüllt mich mit Dankbarkeit, denn ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Menschen etwas bedeute. Meine Kunsttherapeutin schenkt mir eine herzliche Umarmung und gibt mir auf den Weg, mit dem Malen nicht aufzuhören. „Ich sehe da Talent“, sprach sie einmal zu mir. Von meinem Psychologen bekomme ich wie immer einen festen Händedruck und ein leichtes Getätschel auf die Schulter. Nachdem ich jedem anderen Lebewohl gesagt habe, verabschiede ich mich von Eve.

      „Danke dir für alles. Ich glaube, du hast mich aus den tiefsten Löchern geholt, Eve“, sage ich mit Wehmut und viel Dankbarkeit. „Ich werde dich vermissen.“

      „Ach, Katie“, ist alles, was sie sagt. Dann drückt sie mich fest und lange. Ein Moment, von dem ich weiß, dass er einen festen Platz in meinem Herzen sicher hat. „Die hier sind für dich“, überreicht sie mir mit verschmierter Wimperntusche den Dahlienstrauß. Noch einmal umarmen wir uns.

      Es ist vorbei. Ich darf in ein neues, altes Leben zurückkehren.

      Die Schiebetür öffnet sich, ein letztes Mal blicke ich zurück. Winkend drehe ich mich um. Meine Füße übertreten die Schwelle, die mich einst vor mich selbst gerettet hat. Ich spüre den Wind in meinem Gesicht, als wäre er ein anderer wie gestern. Am Ende des Weges ist der Parkplatz der Klinik. Dort steht ein weinroter Range Rover und lässig dagegen lehnend ... Christin. Sie hat mich noch gar nicht bemerkt. Emotional in einer Achterbahn gefangen, lache und weine ich zugleich. Ich laufe schneller, gerade in dem Moment, in dem ich ihr zurufen möchte. Hüpfend, von Gefühlen überwältigt, in der einen Hand den Blumenstrauß, in der anderen die Entlassungspapiere und den Henkel des Koffers. Da passiert es. Am Ende des Parkplatzes, weit hinter dem Range Rover, erblicke ich eine Person. Es hätte jeder sein können, der da durch Zufall steht. Weiße ausgewaschene Chucks, schwarze Jeans, deren Stoff an den Knien schon so dünn ist, dass dieser bald reißen wird, schwarzer Kapuzenpulli und blaue Jeansjacke. Ich werde langsamer. Es ist, als ob man mir kurz den neu gewonnen Boden nimmt. Fast schon zu berechenbar, lasse ich den Koffer und den Umschlag fallen. Aus dieser Entfernung ist es schwer, alles genau zu erkennen. Ob dieser Geistesblitz, den ich im Kopf habe, stimmt? So seelenruhig wie diese Person dort steht, scheint sie eher auf anderer Mission zu sein, als auf mein Herauskommen zu warten.

      „Das ist heute alles sehr viel. Meine Gedanken spielen nur verrückt“, spricht die Selbsthilfe aus mir.

      Gerade als ich mich bücke, um den Umschlag und den Henkel des Rollkoffers wieder in die schwitzende Hand zu nehmen, sehe ich im Augenwinkel, dass Christin mich nun bemerkt hat. Strahlend rennt sie auf mich zu, „Katie!“, platzt es aus ihr heraus.

      Ich verliere fast den Halt auf den Beinen, als sie mich in den Arm nimmt. Meine Schwester zu halten, ist, als würde mein Rückgrat alle Wirbel wieder dort hinschieben, wo sie hingehören. Ich vernehme ihr Schluchzen, ihr Herz rast ebenso wie meines. Nie habe ich mehr Liebe und mehr Vollkommenheit zur selben Zeit empfunden. Ich habe meine Blutsverwandte wieder. Ein großes Herz, das in zwei Körper schlägt. Große Krokodilstränen fließen über meine Wangen. Ich bin zu Hause. Diese Gerüche, die Gespräche, füreinander da sein. Die Erinnerungen.

      Dieser Moment soll ewig dauern. So sehr man sich dies wünscht, ist er einen Augenblick später verstrichen. So ist das nun mal. Das, was er einem gegeben hat, bleibt für immer. Dies sage ich nicht, weil ich die Weisheit besitze, dass ein Moment nicht ewig währt, nein, dies ist die Erkenntnis aus zahlreichen Augenblicken, die vorbeistrichen. Es brach mir jedes Mal aufs Neue das Herz, diese erloschen zu sehen, und doch vergaß ich keinen davon – und dies ist die wichtigste Lektion. Wie lange ein Augenblick schon entfernt liegt, spielt keine Rolle, sondern nur, welche Bedeutung er für uns hat. So und nicht anders behält man Momente für sich, die von Belang sind.

      Der Druck ihrer Arme fällt, langsam lösen wir uns voneinander. Sehen uns in die Augen. „Lass dich ansehen, wie groß du geworden bist“, betrachtet sie mich stolz von oben bis unten.

      „Ich war nur ein Jahr weg, Christin“, antworte ich schniefend.

      „Viel zu lange“, grinst sie. Während sie mir den Koffer und den Brief abnimmt, bestehe ich darauf, den Strauß Dahlien selbst zu tragen. Wir laufen zum Wagen. Mein Blick schweift noch einmal über den riesigen Parkplatz. Die Person, von der ich dachte, dass sie aussieht wie jemand Bestimmtes, ist weg.

      Während Christin mein Gepäck im riesigen Kofferraum des Rovers verstaut, setze ich mich auf dem Beifahrersitz und betrachte den Briefumschlag. Professor Franklins Worte wollen mir ebenso nicht aus dem Kopf gehen wie das eben erblickte Fantasiegebilde. Als meine Schwester sich in das Auto setzt, ist die erste Frage, die ich stelle, wo die anderen sind. Christin schmunzelt nur und fährt los.

      „Alles klar, wie fett wird die Überraschungsparty denn?“, lache ich ihr provokant entgegen. Sie schweigt und schüttelt grinsend den Kopf. Wohl in der Hoffnung, dass ich keine weiteren Fragen mehr stelle.

      Meine Vergleichsmöglichkeiten mit diversen Partys sind verschwindend gering und mit gering meine ich nicht existent. Von diesem Standpunkt aus betrachtet muss ich mich heute tatsächlich überraschen lassen. Wieder und wieder schlage ich taktvoll den Brief gegen das Handschuhfach.

      „Du siehst aus, als würdest du auf Glassplittern sitzen.“

      „Ja, so in etwa.“

      „Falls es die Party ist, die dich so beschäftigt, kann ich dich beruhigen“, grinst sie verlegen.

      Wenn es nur das wäre. Ich schüttle den Kopf. Die Bäume und Häuser rasen an meinen Augen vorbei. Die Gedanken spielen den ganzen Weg über verrückt. Besser ist es, wenn ich Christin nichts davon erzähle. Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen oder vermutlich sowieso an der Glaubwürdigkeit des Ganzen zweifeln. Mich selbst verwundert es allerdings, dass sie keine Kenntnis von ihm genommen hat.

      „Wie war die Fahrt zur Klinik? Habe ich dich gar nicht gefragt.“

      „Ganz gut, weniger los auf den Straßen als gedacht.“

      „Hat also alles reibungslos funktioniert, schön.“

      „Ja, das ist schön“, gibt sie wieder.

      „Bist du jemandem begegnet, den wir kennen?“

      „Begegnet?“

      „Ja, weil es so ruhig und leer war, als ich rausgelaufen bin.“

      „Ach so, nein nur hier und da sind ein paar Menschen vorbeigekommen. Wieso bohrst du so?“, will sie wissen.

      „Nur so, war lange nicht unterwegs“, schließe ich die Unterhaltung ab.

      Nach vier Stunden biegt der Range Rover in eine kleine Seitenstraße ab. Reihenhäuser so weit die Sehkraft reicht. Perfekt für Personen, die für eine Weile untertauchen müssen und eine schöne Bleibe suchen. Dina, die es kaum erwarten kann, die Türe zu öffnen, springt fast wie Bugs Bunny durch sie hindurch. Auffällig von der ersten Sekunde, in der ich sie sehe, ist, dass sie nach all der Zeit die eine Person ist, so scheint es, die sich nie verloren hat. Negatives prallt bei ihr ab wie der Ball bei einem Tennisschläger. Der Anker unter all den Menschen, die Gewicht in meinem Leben haben. Ich bin mir sicher, auch diese Menschen kommen irgendwann am Scheideweg an und überlegen: „Wohin nun?“ Man merkt es bei ihnen nicht, denn sie grübeln allein, weinen allein, sind stark allein. Auf diese Menschen sollte man besonders achtgeben. Denn auch dem besten Tennisschläger reißt mal eine Saite. Sie sieht großartig aus mit ihren hellblonden Locken, die ganz lässig auf den zarten Schultern Platz nehmen. In vier Jahren waren sie erstaunlich wenig gewachsen. Aber einem Engel, wie sie einer ist, steht jede Frisur.

      „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich


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