Der Moment der Stille. Julia Thurm
und drückt mich, wie es ein großer Bruder tun würde. Seine neue Freundin scheint ihm gutzutun. Christin hat mir auf der Fahrt bereits von ihr berichtet. Er strahlt und – das nicht nur wegen seines Vollbartes – eine gewisse Attraktivität aus. Der Charme eines Chris Hemsworth. Erneut umarmt Joe mich herzlich. „Schön, dass du wieder da bist.“
„Ich bin auch froh.“
Seine grün-braunen Augen glänzen und doch sieht man, dass es noch wehtut in seinem Herzen. Auch ihn scheint das Ganze noch nicht losgelassen zu haben. Noch viel deutlicher wird das, als Glen um die Ecke watschelt. Sofort verändert sich die Stimmung. Eine schwarze Wollmütze bedeckt einen großen Teil der Brandnarben. Im Nacken und an den Händen sind sie sehr klar zu sehen. Leicht rosa an manchen Stellen, an anderen schon etwas bräunlicher. Wir alle sind gebrandmarkt, physisch wie psychisch. Allerdings erzählen keine Narben so viele Geschichten wie seine. Auch wenn es hart ist, zu sehen, wie stark er davon beeinflusst ist, bin ich unsagbar froh, dass Glen heute lächelt. „Hey, Katie“, grinst er mir verschmitzt entgegen. Als er damals nach drei Wochen im Koma aufwachte, konnte er sich an vieles nicht mehr erinnern. Jämmerlich sank ich damals in der Toilette des Krankenhauses zu Boden, als ich das bemerkte. Begriff, dass dieser leuchtende Kern ihm künftig fehlen könnte. Ein leuchtender Kern so strahlend wie der Diamond eines Ringes. Die kleinen Dinge, die Glen bis dahin ausgemacht hatten. Die Angst war gewaltig. Es war nicht greifbar, Erinnerungen mit jemandem zu teilen, der sie nicht besaß.
Gerne blicke ich heute auf den Saint Mary’s Park zurück, er schenkte mir lange Hoffnung auf Glens Genesung. Ich will solche Momente nicht vergessen. In all der Tragik des Ganzen wurde mir nach einer Weile klar, dass all das nicht gestorben ist. Es lebt so lange weiter, wie ich es tue. Eventuell sogar darüber hinaus.
Glen umarmt mich behutsam, fast so, als wäre ich aus Porzellan. „Du siehst gut aus“, fügt er hinzu.
Ich lächle. „Du auch.“
Schüchtern blickt er zur Seite. Meine Augen wandern nach oben, als ich bemerke, dass am Haus ein riesiges Willkommensplakat hängt. „Wow“, starre ich beeindruckt darauf. „Ihr seid in Hochform“, freue ich mich. „Ich bin froh, hier bei euch zu sein“, halte ich mein großes Mundwerk zurück, das mich so oft vor meiner sensiblen Seite schützt.
„Wir sind froh, dich wieder bei uns zu haben“, sagt Christin stolz. „Lasst uns in die Küche gehen, dann können wir ein bisschen quatschen, während wir kochen.“
„Ich bezweifle, dass deine Künste besser sind als vor einem Jahr“, provoziere ich.
„Ich hatte Zeit, zu üben.“
„Ganze fünf Mal hätte ich fast die Feuerwehr gerufen“, hebt Dina ihren Daumen nach oben.
Wir lachen.
Alle wiederzusehen, ist ein Gefühl, als wäre mein vergangenes Ich in den Augen der anderen noch da. Du erkennst es deutlich, fühlst es sogar, wie es einmal war. Das Emokind in Schuluniform. Jeder hat diese Erinnerung an mein früheres Selbst. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich nicht mehr die Person sein möchte, die vor einem Jahr ihren Weg vom Grab ihrer Eltern in die Klinik machte. Ein junges kaputtes Mädchen, das nur verstehen wollte, was passiert war. Ich bin immer noch die Person, die verstehen will. Kaputt, doch längst nicht mehr schwach.
„Du hast dich vorher sehr gefreut, Glen zu sehen, habe ich recht? Man hat es in deinen Augen gesehen“, scherzt Dina, als wir einen ruhigen Moment im Badezimmer haben und die anderen in der Küche helfen. Typisch für das östrogenbelastete Geschlecht geht man für Gespräche dieser Kategorie auf das nicht so stille Örtchen.
Den ganzen Tag bis spät in den Abend hinein sitzen wir dann zusammen und erzählen von den Erlebnissen, die über das ganze Jahr passiert sind. Wir lachen und an der einen oder anderen Stelle fließen Tränen. Irgendwann wird es dunkel. Die Nacht begrüßt uns mild und sternenklar. Wir haben uns auf die Terrasse unseres Hauses gesetzt. Die Grillen zirpen nur so um die Wette. Bei jedem Windschlag fallen auch immer wieder Blätter zu Boden. Wir betrachten die Sterne und stoßen gemeinsam mit einer kühlen Flasche Corona an. So vergeht die Zeit. Die Uhr im Wohnzimmer schlägt Mitternacht. Einer nach dem anderen verabschiedet sich.
Der Erste ist Joe. „Ich muss los, meine Freundin wartet“, erzählt er strahlend und zwinkert dabei.
Nur ein paar Minuten später, ist die Nächste, die geht, Dina. Die sich genervt von ihrem Platz auf der Hollywoodschaukel erhebt, da ihre Mom bereits zum dritten Mal ihr Handy terrorisiert. „Die Frau hat auch keine anderen Hobbys, als mich zu nerven“, verabschiedet sie sich. Ich lache, eine mir fremde Zufriedenheit macht sich in mir breit. Vielleicht ist es aber auch nur das Bier.
Christin, Glen und ich bleiben noch eine Weile sitzen und genießen die Ruhe. „Das Beste geht bekanntlich zum Schluss“, scherzt Glen, der nach einer Stunde seine Sachen zusammenpackt und zum Ausgang humpelt. Höflich begleite ich ihn zur Tür. „Es ist schön, dich zu sehen, Katie.“ Er umarmt mich herzlich.
Ich schließe dabei meine Augen. Es ist wunderschön, durch meinen ganzen Körper fließt seine Energie hindurch. Langsam lässt mich Glen los. Unheimlich, wie das Gefühl nachlässt, als wir uns trennen. Er geht hinaus. Kurz bevor ich die Tür schließe, aber ein großer Spalt offen ist, sage ich: „Es ist auch schön, dich zu sehen.“
Glen blickt zurück. Die Atmosphäre zwischen ihm und mir ist, als würden wir uns nicht mit den Augen sehen. „Hättest du Lust, morgen früh eine Runde spazieren zu gehen?“, platzt es etwas holprig aus ihm heraus.
„Ehm, klar, wieso nicht“, antworte ich.
Glen nickt und geht weiter. „So um 9 Uhr?“, ruft er noch.
„Ja!“ Lächelnd drehe ich mich um und schließe die Tür. Seltsam, wie mein Herz sich auf einmal überschlägt. Ich trage Liebe für Joe ebenso wie für Christin und Dina im Herzen, doch meine Gefühle für Glen sind anders. Nicht stärker, aber anders. Nachdenklich laufe ich in die Küche zu Christin. Dort setze ich mich auf die Arbeitsfläche neben der Spülmaschine. Sie hat schon angefangen, das Geschirr einzuräumen.
„Was ist los?“, blickt sie mir besorgt in die Augen.
„Nichts, alles gut.“
„Bist du dir sicher?“
„Glen hat mich gefragt, ob wir morgen früh spazieren gehen wollen.“
„Das ist doch schön“, grinst sie.
„An sich ist es schön, da gebe ich dir recht.“ Ich zögere kurz, „Ich habe keine Gefühle für Glen, wie für jemanden, den man liebt oder so etwas. Aber es ist anders mit ihm“, fallen die Worte wie Steine aus meinem Mund heraus.
„Du meinst, so wie für Drake“, sagt sie ganz unbedacht.
Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Tut, tut mir leid. Ich wollte ... ich meine …“
„Schon okay“, ist meine kurze emotionslose Reaktion darauf.
Seit einer halben Ewigkeit ist dieser Name in unserem Zuhause nicht gefallen. Ihn zu vernehmen, lässt die Sonne verschwinden. Unsicherheit überschattet die Situation. „Ich geh nach draußen. Ein bisschen an die frische Luft“, sage ich und springe von der Arbeitsfläche. Christin nickt, sichtlich wünschend, sie könnte ihre Worte zurücksaugen. Am Eingang ziehe ich meine Schuhe an. Statt sie zu binden, stopfe ich die Schnürsenkel seitlich hinein. Mit der Vorkenntnis, sie werden wenige Meter nach Verlassen des Hauses, herausrutschen.
Es ist eine schöne Nacht. Eine dieser stillen Nächte, die ein gewisse Magie versprühen. In den meisten Häusern brennt noch Licht, in einem davon ist deutlich ein Streit zwischen einem Pärchen zu vernehmen. Zum Einzug hätte man ihnen Vorhänge schenken sollen. Etwas peinlich berührt laufe ich daran vorbei. Keine zehn Minuten entfernt davon, als ich gerade einen kleinen Stein vor mir her kicke, höre ich ein Rascheln hinter einem Gebüsch. Ich bleibe aufmerksam stehen. Da ist das Rascheln schon wieder. Direkt vor meinen Augen bewegt sich erneut etwas. Es ist so still in diesem Viertel, dass