Der Moment der Stille. Julia Thurm
Mensch Angst hat vor dem Unbekannten, aber dennoch möglichst viel wissen will. Die Neugier überwiegt die Angst so gut wie immer. Neugier ist etwas Tückisches, ein Spiel mit dem Feuer. In Horrorfilmen werden meist zuerst die Wissbegierigsten umgebracht. Das scheint mir kein Zufall zu sein. So beuge ich mich dem Blätterstrauch in der ganzen Faszination entgegen, um einen Blick zu erhaschen. Meine Hand möchte die Sicht frei machen. Ich erschrecke, als das Rascheln lauter wird. Meine Beine machen einen Schritt zurück und ich stolpere über den von mir losgetretenem Stein. Perfekt lag er in der richtigen Position dafür.
„Super gemacht“, denke ich mir.
Fallschutz ist selbstverständlich nicht gegeben. Ich reibe mir das Steißbein. Dieses Opfer war zu groß, alles, was aus dem Naturgewölb krabbelt, ist eine Norwegische Waldkatze, die wohl gerade eine Maus gefangen hat. Stolz will sie das tote Tier nach Hause tragen. „Dieses elegante Erscheinungsbild passt nur zu einer Dame“, denke ich mir. Mit ihren tiefgrünen Augen sieht sie mich an, als würde sie sagen wollen, wie blöd ich eigentlich bin, ihretwegen über einen Stein zu fallen. Der Kuscheltiger schleicht in Katzenmanier weiter. Ich grinse. Der Drang nach dem Unbekannten hatte mir Steine in den Weg gelegt.
Noch bevor ich aufstehen kann, kehrt das Erlebte wieder einmal in einem Flashback zurück. Alles verschwimmt miteinander. Die Straße ist so ruhig, wie damals, als ich vom Park nach Hause lief, um in meinem Bett zu schlafen. Um halb vier Uhr morgens. Als das Haus explodierte. Mein Haus. Christins Haus. Spikes Haus. Alles verbrannte nach einem einzigen Knall. Dinge, die meinen Eltern gehörten, Bilder, Kleidung, Vasen, einfach alles. Ich sehe es deutlich vor mir. Das Gefühl, als mich die Schallwelle zurückschleuderte, wird für einen Moment wieder real. Die Platzwunde am Kopf wieder spürbar. Ich fasse mir an die Stirn. Das stechend, betäubende Geräusch, das einen so lähmt, ist zurück. Ich stehe vom Boden auf. Als ich versuche, mit meinen weich gewordenen Beinen festen Asphalt unter mir zu fühlen, erhebe ich meinen Blick.
Da steht er vor mir. Drake. Seine Augen treffen meine, direkt und klar. Das ist seit Stunden das erste Mal, dass einer von beiden wieder auftaucht. Ein Stich ins Herz, der wehtut. Das wiederkehrende Schuldgefühl. Blut tropft auf den Boden. Ein zartes Platsch ... platsch. In seiner Hand sehe ich ein Messer. Platsch, ein weiterer Tropfen fällt. Kurz kommt der Gedanke auf: „Er will mich umbringen.“ Platsch. In diesem Plan war er schon einen Schritt weiter. Das rote Leben entläuft mir. Er hat mich nicht verletzt, das war ich selbst. Es sind meine Hände, die in Blut getränkt sind. Ich halte die Tatwaffe. Platsch, platsch. Panisch möchte ich mir den roten Saft an meiner Jeansjacke abwischen.
„Es soll aufhören! Weg damit!“, rufe ich. Als ob mein Hilferuf Gehör finden wird, ist in einem Wimpernschlag alles weg. So auch Drake. Ich drehe mich im Kreis, niemand ist zu sehen. Kein Mensch. Kein Blut. Kein schriller Ton. Kein Messer. Nur die Person, die mal wieder erdrückt wurde von ihren Gedanken. Ich halte inne. Schwitzend. Versuche, mich zu sammeln. Niedergeschlagen und erschöpft laufe ich zurück nach Hause.
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