Österreich im Jahre 2020. Josef von Neupauer

Österreich im Jahre 2020 - Josef von Neupauer


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unserem Quartier. Man sagte uns, dass man von jedem Hause nach jedem Hause, auch zu den Palästen in der ehemaligen inneren Stadt, dem jetzigen Adelsviertel, bei schlechtem Wetter trockenen Fußes kommen könne und dass die Straßenbahnwagen Zeit der Empfänge Wagen genug aufgestellt seien, welche die Gäste von den Aussteigehallen nach der Burg oder den Palästen der Adeligen beförderten. Es sei das zwar eine nicht geringe Arbeit, da oft an 50.000 Menschen zu befördern wären, aber es seien über 1.000 Wagen zur Verfügung und sie hätten nur kurze Strecken zurückzulegen. Übrigens gehe man daran, die Tramway durch dieses Viertel, das nur ein großer, mit Palästen gezierter Park sei, zu führen, da man die Erfahrung gemacht habe, dass dieses Verkehrsmittel pneumatisch betrieben und die Schienen durch Gärten geführt werden könnten, ohne diese zu verunstalten.

      Nach dem Abendmahle stiegen wir über eine der hohen Treppen in das erste Stockwerk, wo wir uns leicht zurecht fanden, weil der Grundriss aller dieser öffentlichen Gebäude ähnlich ist, und gelangten in den Bibliothekssaal, der die Mitte des ersten Stockwerkes einnimmt und von kleineren Sälen umgeben ist, welche in den Gemeinden größtenteils als Schulzimmer benützt werden, aber in den hauptstädtischen Quartieren als Spielzimmer, kleinere Lesekabinette und zu Vorlesungen vor kleinem Auditorium dienen. Der Bibliothekssaal, der seinem eigentlichen Zwecke nur entzogen wird, wenn wichtige politische Versammlungen der ganzen Gemeinde oder Schlussabstimmungen stattfinden, ist hoch hinauf mit Bücherschränken bekleidet, in welchen sich auch Repositorien für Karten und Stiche befinden, und der in diesem Saale angestellte Ordner zeigte uns, dass die Bibliothek schon 10136 Bände zähle. Wir nahmen einige amerikanische Zeitungen und Bücher, womit wir uns in ein leerstehendes Nebengemach zurückzogen, um zu lesen. Es erregte unsere Aufmerksamkeit, dass dieser kleine Saal, zu dem nur eine einzige Türe führte, eine kleine Bibliothek enthielt, und in den Kästen sich nur blau gebundene Werke befanden. Dr. Kolb sagte uns, dass alle Bücher, die etwas enthalten, was vor Kindern und jungen Leuten geheimgehalten werden müsse, in blauen Bänden zur Aufstellung käme und dass auch solche Zeichnungen und dergleichen auf dieselbe Art kennbar gemacht würden. Solche Bücher, Zeichnungen, Modelle etc. würden in der kleinen Bibliothek verwahrt, zu welcher die jüngeren Leute und Kinder keinen Zutritt hätten, und es könne aus dieser Bibliothek nur an zuverlässige Personen etwas verliehen werden. Die Frauen wieder bänden ihre Geheimliteratur rot und in ihren Privatlesesaal hätten auch Männer keinen Zutritt. Übrigens stehe der Antrag in Verhandlung, Kindern gegenüber größere Offenheit walten zu lassen, da man erwarte, dass sich auch da die Vernünftigkeit eines Abhärtungssystemes erweisen werde, vorausgesetzt, dass es schon vor Eintritt der Pubertät zur Geltung kommt.

      Wir gerieten nach einer Weile wieder in ein Gespräch mit Dr. Kolb, der uns Aufschluss über das Bibliothekswesen und den Bücherverlag gab. Er sagte, die Reichszentralbibliotheksverwaltung zähle 300 ständige Beamte. Diese könnten aber natürlich nicht die unermessliche Menge der immer aus dem Auslande zuströmenden Werke lesen und sich so auf dem Laufenden erhalten, dass sie jedermann Aufschluss geben könnten, der sich über einen Zweig der Wissenschaft oder Literatur orientieren wolle. Sie hätten genug mit der Katalogisierung und alljährlichen Ergänzung der gedruckten Kataloge und deren Neuherausgabe, welche alle 10 Jahre stattfindet, zu tun, auch liege ihnen die Bücherversendung aus den Zentralbibliotheken und die Oberaufsicht über die Provinzbibliotheksverwaltungen ob, die wieder in einem ähnlichen Verhältnisse zu den Kreisbibliotheken stünden. Die Kataloge seien gedruckt, umfassten viele Bände und würden in jedem Lesesaale aufgestellt. Wie Gemeinde-, Bezirks-, Kreis- und Provinzbibliotheken zu dotieren sind, ergebe sich von selbst aus bibliothekstechnischen Grundsätzen und würden übrigens aus jeder Bibliothek Bücher versendet, wenn sie entbehrt werden können. In Wien sei ein Röhrensystem errichtet, wodurch es möglich wird, in kürzester Zeit Bücher aus den Hauptbibliotheken in die Lesesäle der Quartiere zu befördern. Dazu bediene man sich der Pneumatik. Die Menschenarbeit bestehe nur darin, die Bücher in die Wagen zu legen und diese in die Mündung der Röhren einzuführen. Jede Zentralbibliothek habe 35 Lesesäle zu bedienen. In den Gebäuden der Zentralbibliotheken selbst seien zahlreiche Arbeitszellen errichtet, in welchen Gelehrte, Künstler und auch andere Personen sich eine Handbibliothek zusammenstellen lassen können, um ungestört arbeiten zu können.

      Wir berechneten, wie viele Bücher Österreich brauche, wenn mehr als 40.000 Lesesäle, die Österreich besitzt, mit so großen Mengen von Büchern dotiert sind, und noch so bedeutende Reservoirs in großen Zentralbibliotheken bestehen, aber Dr. Kolb sagte, dass die Landgemeinden durchaus einen geringeren Bibliotheksstand hätten und nur die Bezirksbibliotheken, deren es 2.000 gäbe, reichhaltig ausgestattet seien. – Zwirner habe ihm übrigens erzählt, dass nach seinen Forschungen schon im 19. Jahrhunderte Deutschland allein jährlich über 6.000 Werke von oft vielen Bänden und großen Auflagen druckte und man also wohl auf eine Jahresproduktion von 10 Millionen Bänden jährlich in Deutschland für jene Epoche schließen könne. Die vergleichsweise Bücherarmut jener Zeit sei nur daraus erklärlich, dass die Bücher meist jahrelang bei Buchhändlern müßig standen, dann kaum einmal gelesen wurden und wieder in Privatbücherregalen verstaubten, während jetzt jeder Band aus der Buchbinderei in die Bibliothek wandert. Die Jahresproduktion betrage jetzt in Österreich alljährlich 40 Millionen Bände, also etwa viermal so viel, als im 19. Jahrhunderte in Deutschland, und etwa 20 Millionen Bände würden jährlich ausgemustert und wieder in die Papierfabriken geliefert, daher der Jahreszuwachs 20 Millionen Bände beiläufig betrage, und da dieser Zuwachs in den letzten 20 Jahren konstant blieb, so ergebe das allein für diese Jahre 400 Millionen Bände und erhöhe sich die Mannigfaltigkeit der Werke erstaunlich durch den internationalen Tausch, beziehungsweise internationalen Buchhandel, der meist 5 Millionen Bände im Jahre betrage. Es belaufe sich die Zahl der jährlich aufgestellten inländischen und ausländischen Werke auf 50.000. – Außerordentlich verschieden allerdings sei die Zahl der Exemplare, da man von manchen Werken 45.000 Exemplare auflege, von vielen ausländischen Werken aber nur ein einziges beziehe. Wir bestritten die Möglichkeit, die Jahreskataloge im Drucke zu veröffentlichen, aber Dr. Kolb versicherte, er habe bei Zwirner einen Warenkatalog von einem gewissen Rix in Wien aus dem 19. Jahrhunderte gesehen, worin Kinderspielwaren und anderer Tand bis zu einem Preise von 5 Kreuzern verzeichnet waren. Viel mehr als das könne man für die Literatur tun. Übrigens werden chinesische, japanische und andere Werke der fremdesten Literaturen meist nur summarisch der Zahl und dem Gegenstande nach am Schlusse des Katalogs erwähnt.

      Wir glaubten, eine Jahresproduktion von 40 Millionen Bänden müsste die nationalen Papiervorräte erschöpfen, aber auch das widerlegte Dr. Kolb, indem er darauf verwies, dass man den Papierverbrauch in Österreich schon im Jahre 1890 auf 3-1/2-Kilogramm per Kopf der Bevölkerung berechnete und jetzt betrage er 5 Kilogramm per Kopf. Da nun der Papierverbrauch per Band durchschnittlich nicht einmal ein halbes Kilogramm betrage, sei es leicht ausführbar, für jeden Kopf der Bevölkerung einen Band jährlich zu präliminieren.

      Das führte uns noch einmal auf das Verlagswesen, worüber uns Zwirner erschöpfende Mitteilungen nicht gemacht hatte. Dr. Kolb sagte, es seien für den öffentlichen Verlag 3.000 Werke mit 40 Millionen Einzelbänden jährlich präliminiert und sei das Verlagsrecht gewissermaßen budgetmäßig auf Zivilliste, Reich, Provinzen, Kreise aufgeteilt und könne sogar jede Gemeinde nach einem 40-jährigen Turnus einen Band auf Rechnung des öffentlichen Verlags in 1.000 Exemplaren drucken lassen. Der Verfasser reiche also das Manuskript der Zentralregierung ein, welche die ausgestoßenen Manuskripte an die Provinzverwaltungen gebe und so weiter. Aber der Verfasser könne sich auch direkt an die Zivilliste oder einen Kreis, eine Gemeinde &c. wenden. Wer seit fünf Jahren Mitglied des literarischen Vereines sei, könne 1.000 Exemplare eines einbändigen Werkes auch in Druck legen, ohne jemandes Erlaubnisse einzuholen.

      Das verhalte sich so. Wie schon erwähnt, können die Bibliotheken ihre Arbeit unmöglich vollkommen bewältigen. Sie würden zwar von Professoren und Studenten unterstützt, aber auch das genüge nicht und man habe daher einen literarischen Verein gegründet, der jetzt weit über 50.000 Mitglieder in allen Teilen des Reiches zähle und sich nach Sprachen Wissenschaften und Literaturzweigen in Sektionen und Unterabteilungen gliedere.

      Die Regierung stelle dem Vereine ein Zentralbüro, das sich derzeit in St. Pölten befinde, eine Druckerei und Buchbinderei und jährlich eine bestimmte Menge Druckpapier zur Verfügung und könne der Verein einmal jährlich 100 Werke auswählen, die auf Rechnung des öffentlichen


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