Österreich im Jahre 2020. Josef von Neupauer
anderen Morgen, Samstag, schliefen wir etwas länger und da die Fremdenzimmer in dem Flügel der Wohnhäuser untergebracht sind, in welchem die alten Leute wohnen, welche Ruhe haben wollen, so hörten wir nicht den Schall der Gongs, womit sonst überall Jung und Alt allmorgendlich um 5 Uhr spätestens aus den Federn gejagt wird.
Der Morgen war heiter und wir gingen, nachdem wir das Wohnhaus verlassen hatten, schwimmen, kamen aber schon um 7 Uhr in den Speisesaal, wo ein Dutzend hübscher Mädchen den Dienst versahen und jenen das Frühstück brachten, die sich verspätet hatten. Da wir an Zwirners Tische Platz nehmen wollten, kam ein alter Herr zu uns, nannte sich Dr. Kolb und entbot uns einen Gruß von Freund Zwirner, der schon längst über Feld gefahren sei und uns heute nicht mehr sehen könne, da er abends zu Hochberg wolle und uns eine Wiederholung des Besuches dort nicht zumuten könne.
Während wir uns an das Frühstück machten, sagte Dr. Kolb, er wolle uns Gesellschaft leisten, was der Hauptberuf der alten Herren den Fremden gegenüber sei, und er bäte, aus dem Metropolitananzeiger, der nur für Wien und Umgebung herausgegeben werde, uns zu informieren, was uns von den abendlichen Genüssen am meisten Vergnügen bereiten könne. Er habe gehört, dass wir Geschichtsforscher seien und wenn uns ein halb wissenschaftlicher Vortrag Interesse bieten könne, so empfehle er die Rubrik: „Wissenschaftliche Vorträge“ zu studieren. Der Vorschlag gefiel uns und wir nahmen jeder ein Heft zur Hand, um nach einiger Beratung einen Vortrag des Professors Lueger über Franz Josef den Standhaften und seine Zeit im alten Universitätsgebäude am Franzensring zu wählen. Dr. Kolb zollte dem Vorschlage Beifall und empfahl uns, in seiner Begleitung nach Wien zu fahren und einmal eine erste Rundfahrt zu unternehmen, da wir dieser Stadt viele Tage würden widmen müssen. Da ferners der Vortrag um sieben Uhr abends beginne und kaum vor halb zehn Uhr geschlossen würde, so wolle er uns ein Quartier in der Stadt besorgen, wo wir die Nacht zubringen könnten. Er wolle sich uns ganz widmen und uns am nächsten Morgen, sonntags, zurückbringen. Das war uns angenehm und Dr. Kolb entfernte sich auf kurze Zeit, um bald darauf mit der Nachricht zurückzukommen, Wien sei einer bevorstehenden Regatta wegen überfüllt, und er habe uns daher nicht in den der Universität zunächst gelegenen Quartieren Herberge verschaffen können, aber im Dritten Gumpendorfer Quartier hätte er drei Schlafzimmer belegt. Solche Festlichkeiten lockten immer viele Menschen nach Wien, aber trotzdem würde in den Sommermonaten Platz genug sein, da Hof und Adel, Studenten und Lehrkräfte, ja auch viele Pensionisten fortzögen, um heim zu eilen oder in den Bergen kühle Wohnungen aufzusuchen. Diese Zeit aber benütze man doch wieder, um junge Leute aus allen Teilen des Reiches nach Wien zu bringen. Man halte es für bildend, die Jugend mit der Weltstadt bekannt zu machen; es gebe das auch Gelegenheit, Fleiß zu belohnen und Unfleiß zu bestrafen, da jede Gemeinde einen Teil der zur Wiener Reise bestimmten Altersklasse strafweise ausschließe, und in Vielen werde ein wahrer Feuereifer für die Schule wachgerufen, wenn sie das herrliche Wien zum ersten Mal schauen und hören, dass die besten Schüler an die Hochschule kämen und dann fünf Jahre in der Hauptstadt zubringen könnten.
Die Eisenbahn brachte uns bald nach dem Franz-Josefs-Bahnhofe und Dr. Kolb riet uns, die Straßenbahn, und nicht die Stadtbahn zu benützen, die man am Ausgange des 19. Jahrhunderts gebaut, aber dann wieder teilweise verlegt habe, um die Störungen zu beseitigen, welche dadurch in die harmonischen Veduten waren gebracht worden. Wir folgten seinem Rate und bestiegen einen Straßenbahnwagen, der den Weg von dort zum Schottenring, dann im Kreise um den ganzen Ring machte und wieder zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrte. Solche Wagen gingen von jedem äußeren Bahnhofe aus, weil sich die Gepflogenheit herausgebildet hatte, dass jeder Ankömmling seinen ersten Besuch mit dieser Rundfahrt einleite; denn es war eine über den ganzen Erdkreis verbreitete Legende, dass man nichts Schöneres sehen könne.
Wir nahmen auf der Imperiale des Wagens Platz, der weder mit Pferden bespannt war, noch von einer barbarischen, qualmenden Straßenlokomotive bewegt, sondern pneumatisch betrieben wurde, indem der neben dem Kutscher angebrachte Windkessel an jeder Haltstelle aus den pneumatischen Röhren mit Druckluft versorgt wurde.
Wir bemerkten, dass die Stadt beinahe aus gleichen Quartieren zusammengesetzt war; sie glichen in ihrer Hauptanlage Tulln und anderen kleinen Gemeinden. Vier große Wohngebäude umschlossen immer einen Palast, der für Verwaltung, Lese- und Speisesäle bestimmt war; dazwischen liefen Gartenanlagen mit Schwimmbassins und nur zwei oder drei Flügel der äußeren Gebäude reichten bis zu den Straßen, die zum großen Teile mit Straßenbahnwagen befahren wurden. Lastwagen fuhren nirgends auf der Straße und Equipagen schossen nur zuweilen an uns vorüber, wie auch einige Radfahrer lautlos vorbeiglitten. Nur die Ringstraße bildete, wie in alter Zeit, eine breite gepflasterte Fläche. Sonst waren überall schmale Trottoirs angebracht und in vielen Straßen, welche von Equipagen gar nicht befahren werden durften, war nur eine ununterbrochene Gartenanlage zu sehen. Es fielen die Straßenbahnschienen, die in die Wiesenplätze gelegt waren und die Schlangenwege kreuzten, kaum auf. Um diesen Betrieb zu ermöglichen, liefen vor den Rädern Schienenräumer einher, welche nicht nur Steinchen auswarfen, sondern auch Gräser und Halme beiseiteschoben. Die Wechsel konnte der Wagenlenker während des Fahrens von seinem Sitze aus stellen, da vor jeder Weiche ein Riegel zwischen den Schienen angebracht war, der durch vom Sitze aus verstellbare, am Wagen angebrachte Bolzen nach rechts oder links geschoben werden konnte.
Als wir in die Ringstraße einbogen, sahen wir uns gegenüber das schöne ehemalige Börsengebäude, von Theophil Hansen erbaut, unverwittert in roter Farbe leuchten und da man schon seit mehr als hundert Jahren dort nicht mehr schacherte, war das Haus in ein Unterrichtsgebäude verwandelt worden, wie das ehemalige Polizeigebäude rechter Hand jetzt als Studentenherberge dient. Dr. Kolb machte uns auf die Balustrade aufmerksam, welche die ehemalige Börse krönt, und sagte, wir hätten bei Leibe nicht zu fürchten, dass die Säulchen brächen und den Vorübergehenden auf die Köpfe fielen, denn man baue in Wien für die Ewigkeit. Er deutete auf das ehemalige Polizeigebäude gegenüber und erzählte, dort stände aus alter Zeit im Hofe ein grün gestrichener Wagen mit Gittern und Zellenwänden, dessen Bestimmung man sich nicht klar machen könne; man vermute, dass er zum Transporte von Tieren gedient habe. Es sei ein Ausschreiben ergangen, dieses historische Rätsel zu lösen. Er belehrte uns übrigens, dass von den Wohngebäuden, die im 19. Jahrhunderte an der Ringstraße standen, nur mehr wenige vorhanden wären, da viele Häuser reicher Bürger längst niedergerissen und öffentliche Gebäude an deren Stelle errichtet worden seien. Eine Ausnahme bildete das Sühnhaus, übrigens ein Stiftungshaus zur Erinnerung an den schrecklichen Brand eines Theaters, das an derselben Stelle stand. Das Sühnhaus ist ein schöner Bau, entworfen von Meister Schmidt, dem Dombaumeister des 19. Jahrhunderts. „Hier seht ihr die Votivkirche, vom Architekten Ferstel entworfen. Dieser Bau wurde vom nachmaligen Kaiser Max, von welchem ihr wohl heute Abend in der Vorlesung hören werdet, gegründet zur Erinnerung an die Errettung des Kaisers Franz Josef, den ein politischer Schwärmer mit Mordwaffen angefallen hatte, und hier steht schon die gleichfalls vom Baumeister Ferstel stammende älteste deutsche Universität dieser Stadt, in der man neben wirklichen Wissenschaften nur mehr Geschichte der Theologie und Geschichte der Jurisprudenz vorträgt, weil diese angeblichen Wissenschaften nur Requisite des Klassenstaates waren. Die Rampe beweist deutlich, dass die Studenten des 19. Jahrhunderts mit Bieren in die Vorlesung fuhren.“
„Wie haltet ihr es jetzt mit der Religion?“, wollte Mr. Forest fragen; aber Dr. Kolb bat uns, ihn nicht zu unterbrechen, weil es gelte, die Wandelbilder zu erläutern.
„Hier links das sogenannte Burgtheater, von Meister Hasenauer, – man nannte diese Herren im verrückten 19. Jahrhunderte alle Barone oder Freiherren. Der junge Mann, der dort hoch oben auf der Mauer sitzt, als wäre er von des Nachbars Garten herübergestiegen, wo er Kirschen gestohlen, ist der Gott Apollo, und da wir zu nahe am Theater vorüberfahren, entgehen euch kostbare Merkwürdigkeiten, die auf dem Dache angebracht sind. Nämlich ein allerliebstes Lusthäuschen, um das sich ein munterer Blasengel dreht, der im Übereifer immer dorthin bläst, wohin ohnedies der Wind zieht. Ferners stehen auf zwei Dachreitern je zwei waghalsige Genien, welche Kränze zum Kaufe auszubieten scheinen, aber nicht herabsteigen, sondern uns hinauflocken wollen. Im Hintergrunde des Parkes rechter Hand steht das ehemalige Rathaus mit dem Reiterbild Franz Josef des Standhaften über dem Portal und dem kupfernen Wächter auf der Turmspitze. Auch vom Gemeinderate und Bürgermeister jener entschwundenen Epoche weiß man nichts mehr. Die Archive aber erzählen