Österreich im Jahre 2020. Josef von Neupauer
mussten. Der Ratssaal ist noch erhalten und die Kastellane zeigen den Sitz, von dem aus Dr. Karl Lueger, ein Ahne unseres Professors, gegen den damaligen Bürgermeister, Dr. Johann Nepomuk Prix, der auch als Baron gestorben sein soll, donnerte, aber vergeblich, denn Dr. Karl Lueger war immer Führer einer Minorität, die er sich unter den verschiedensten Bezeichnungen zusammenzutrommeln wusste. Da er aber weder im Rathause auf den Bürgermeisterstuhl, noch im Abgeordnetenhause, das wir hier sehen, auf die Ministerbank kommen konnte, hat er in alten Tagen alle Mandate eigensinnig von sich gewiesen. – Das Abgeordnetenhaus ist auch von Theophil Hansen erbaut, den ich euch als Erbauer des ehemaligen Börsengebäudes nannte. Im ehemaligen Rathause wohnen heute die obersten Volkstribunen mit ihren Sekretären und das Abgeordnetenhaus dient zuweilen zu parlamentarischen Versammlungen, wenn das Volk über größere technische Projekte nicht durch gemeindeweise Abstimmung entscheiden will und aus jedem Kreise drei Abgeordnete mit Vollmacht entsendet.
Sonst tagen unausgesetzt gelehrte Versammlungen und europäische Kongresse in diesem Bau, weil die Sitzungssäle und Konferenzzimmer dazu geeignet sind. Man erzählt sich übrigens, dass die Sitzungssäle im vorigen Jahrhunderte gänzlich umgebaut werden mussten, weil eine Spezialität dieses Hauses die war, dass man in jenen Sälen sein eigenes Wort nicht verstand, geschweige denn einer längeren Rede hätte folgen können. Auch das ehemalige Abgeordnetenhaus ist von vorzüglichem Material erbaut und ihr müsst nicht glauben, dass die Stufen, die da hinanführen, oder die Postamente etwa dem Wetter nicht trotzen könnten oder gar große Stücke herausfielen und hässliche Löcher entstünden, wenn es friert. Allerdings wird das meiste im Winter in warme Decken gehüllt und mit Brettern bedeckt, was aber auch einen reizenden Anblick gewährt. Der Bau hat auch eine meteorologische Bestimmung, denn inmitten der Marmorbildsäulen, die um den Rand des Daches herumstehen, hat man eine gewaltige Esse angebracht, aus der immer dicker Rauch hervorqualmt, den der Wind der einen oder der anderen Statuenkolonne in den Rücken weht. Daran kann sich der Wiener an den Fingern abzählen, woher der Wind weht, und schlägt der Wind dann um, so steigen die Hauswärter hinauf und machen die Statuen wieder blank. Hier links schimmert durch die Bäume des Volksgartens die Statue des Dichters Grillparzer herüber, etwas sonderbar von einem Ofenschirm begleitet, mit dem man sich aber gerne aussöhnt, wenn man die herrlichen Hautreliefs darauf von Meister Weyr betrachtet. Und nun kommen wir zur Hofburg, in welcher der Kaiser residiert, mit dem Forum, den Museen, und im Hintergrunde, an der Stelle des ehemaligen Hofstallgebäudes, seht ihr den Zentralregierungspalast. Die Museen hat der berühmte Baumeister Semper entworfen und auch teilweise gebaut, den Bau aber nach seinem Tode Meister Hasenauer beendet. Von diesem wahrscheinlich, dessen Phantasie immer das Beste auf den Dächern anzubringen wusste, stammen die großen Kuppeln, die je von vier reizenden Kindern begleitet sind, welche wahrscheinlich die Aufgabe haben, sich zu großen Kuppeln auszuwachsen und dann der Reihe nach einzurücken, wenn die großen einstürzen. Statuen sieht man überall. Entweder sind sie als Säulenheilige auf ungeheuren Postamenten angebracht und legen rühmliche Proben von Schwindelfreiheit ab, oder sie stehen knapp hinter der Dachrinne am Rande der Dächer und sehen neugierig auf die kleinen Leute herunter, welche auf der Straße herumlaufen. Es ist das gewissermaßen ökonomisch, denn man erspart die Tafel, auf welche man zu schreiben pflegt: ‚Man bittet, die Statuen nicht zu berühren und ihnen nicht mit den Schirmen die Nasen abzustoßen.‘ Die Anordnung der Statuen hatte im 19. Jahrhundert offenbar einen militärischen Charakter. Auf dem Abgeordnetenhause sind sie in Linien ausgezogen und man meint, den Major anreiten zu sehen, der mit dem Säbel winkt, der Flügelmann solle das Knie und der dritte Mann dort die rechte Hand hereinnehmen. Bei der Votivkirche stehen die Heiligen und Apostel eingepresst nebeneinander, als gälte es ein Carré zu bilden, um gegen eine berittene Legion Teufel Stand zu halten. Das wird aber, ich zweifle nicht, in den Gesetzen der Schönheit vollkommen begründet sein.
Übrigens, Freunde“, sagte Dr. Kolb lachend, „wir lieben unser Wien und wenn wir einiges daran tadeln, hoffen wir, dass unsere Gäste die Schönheiten nicht übersehen werden, von welchen zu sprechen uns nicht zusteht. Wir haben in Wien zwar eine böse Zunge, aber ein gutes Herz und in bösen Zeiten haben sich die Wiener oft mit einem Scherz über großes Unglück hinweggeholfen.
Wie ihr seht, ist das ganze ungeheure Forum, das früher durch Mauern und ein monumentales Tor abgeteilt war, mit Reiterstatuen und mit den Bildsäulen berühmter Männer besetzt, die im Wettstreit ihre Nebenbuhler besiegt und erste Preise davongetragen haben. Es regt das nicht wenig den Ehrgeiz an. Lasset euch nicht die herrlichen und weltberühmten Mosaiken entgehen, die die ganze Fläche dieses Riesenraumes durchziehen und an welchen fünfzig Jahre gearbeitet wurde.“
Nun zeigte uns Dr. Kolb auf einem polychromen Kunstblatte die Abbildungen der Mosaiken, die wir später auf unserer Fußwanderung näher in Augenschein nehmen sollten, und wir fuhren an der alten Oper, einem nicht sehr geschmackvollen großen Baue, und vielen neu errichteten öffentlichen Bauten vorbei, die einen viel großartigeren Charakter zeigten, als die Bauten der älteren Periode, dann den Donaukanal entlang wieder zur alten Börse zurück, um nun auszusteigen und im nächstgelegenen Quartier, wo wir uns legitimierten, das zweite Frühstück einzunehmen. Dann pilgerten wir zu Fuß nach der Votivkirche, besahen den Hofraum der Universität mit den zahllosen Standbildern und Büsten berühmter Lehrer, erfreuten uns im Rathausparke an den Spielen der Kinder, die da zu tollen pflegen, betraten das alte Rathaus und den Sitzungssaal, wo auf dem Pulte des Dr. Lueger die letzte Rede dieses Mannes, der sich seinerzeit als Volksredner und durch unermüdliche parlamentarische Tätigkeit großes Ansehen erworben hatte, angeheftet zu lesen war, und hörten in einem Beratungssaale des alten Abgeordnetenhauses von der Galerie aus den Verhandlungen eines hygienischen Kongresses zu, zu welchem einem Anschlage zufolge nur Männer Zutritt hatten, um dann das Forum in Augenschein zu nehmen. Dr. Kolb führte uns vor eine in der Mitte des Forums aufgestellte im Sonnenlichte spiegelnde Säule und sagte: „Das ist die Schandsäule der begrabenen Wirtschaftsordnung, die auf Privatbesitz und Handel aufgebaut war.“ – Diese Säule hat einen Durchmesser von einem Meter1 und eine Höhe von 9,23475 Meter und ist aus purem Golde. Die Inschrift lautet:
„Diesen wertlosen Goldklumpen hat Österreich im Jahre 1893 aus Frankreich und England bezogen und sich dafür zu einem Jahrestribut an Nahrungsmitteln für 50.000 Menschen verpflichtet.
Diese Säule, deren Bewachung im 19. Jahrhunderte eine Armee erfordert hätte, steht unangefochten und unbewacht seit dem Jahre 1943 auf dieser Stelle. Am Fuße dieser Säule hat jeder Regent bei Antritt der Regierung vor versammeltem Volke den Schwur zu leisten, dass er die Rückkehr zur alten Wirtschaftsordnung verhindern und nach keinem persönlichen Eigentume streben wolle.“
Wir wunderten uns, dass man das Gold nicht doch ausmünze, um Waren aus Amerika oder China zu beziehen, wo noch Gold im internationalen Handel verwendet wird, aber Dr. Kolb belehrte uns darüber, dass nunmehr auch das Gold, wie ehemals das Silber nur in beschränktem Maße ausgemünzt werde und demnach auch das Gold als Metall keinen erheblichen Wert mehr habe. Würden aber die europäischen Staaten ihre alten Goldvorräte auf den Markt bringen, so müsste das Metall auch im Welthandel auf ein Fünftel herabsinken. Man behalte sich also vor, das vorhandene Gold zu Schmuck und Geräten zu verarbeiten, aber vorläufig tue es bessere Dienste in der greifbaren Demonstrierung seiner Wertlosigkeit.
Es war nahezu 5 Uhr, als wir mit dieser Besichtigung zu Ende gekommen waren, und als wir den Straßenbahnwagen besteigen wollten, händigte uns ein Fremdenführer, deren es überall auf der Straße gibt und die angesehene Leute sind, welche in Pension stehen und für die Erlaubnisse, sich in Wien niederzulassen, kleine Nebendienste verrichten, je ein Prachtalbum mit der Aufschrift: „Erinnerung an Wien“ ein, in welchem herrliche Bilder aus Wien, besonders die polychromen Darstellungen der Mosaiken des Forums, enthalten sind. Auf dem Album war der Tag unseres dortigen Besuches eingetragen und mit der Unterschrift der obersten Staatsverwaltung beglaubigt, dass dieses Album dem fremden Gaste, – dessen Namen einzutragen freistand, – am Tage seines Besuches auf dem Forum war ausgehändigt worden.
Wir fuhren in unser Quartier, wo wir viele Amerikaner trafen, speisten, badeten und dann ein wenig auf unseren Zimmern ruhten, um nach halb sieben Uhr wieder den Waggon zu besteigen und nach der alten Universität zu fahren. Wir kamen durch die berühmte Säulenhalle, welche glänzend erleuchtet war, über die rechtsseitige Stiege mit den breiten Absätzen und bronzenen Kandelabern in einen Korridor,