Österreich im Jahre 2020. Josef von Neupauer
und der damalige Ministerpräsident für die Länder der ungarischen Krone musste Rede stehen.“
Diese jetzt zu einer Nationaltugend gewordene Polyglottie sei der Hauptgrund, weshalb seit 40 Jahren die Fremden aus allen Weltteilen Österreich und gerade Wien mit Vorliebe aufsuchten und die 30 Hochschulen in Wien, worunter auch an mehreren Vorlesungen in fremden Sprachen gehalten würden, von Studierenden aus Australien ebenso, wie Kolonien in Ostafrika besucht würden.
Wir waren noch nicht zu Worte gekommen, was uns recht lieb war, denn wir wurden überall überschüttet mit Aufklärungen und Freundlichkeiten und fürchteten, recht ungeschickte Dinge zu sagen, aber jetzt erlaubte ich mir doch, einzuwerfen, dass wir verwundert gewesen seien, dass Zwirner nicht Englisch verstehe, da er uns doch in englischer Sprache geschrieben habe. – Das erkläre sich wohl leicht, sagte Zwirner. Er habe gewiss ebenso viel Sprachentalent als irgendein anderer Österreicher, aber, da sein Beruf der eines landwirtschaftlichen Arbeiters sei, habe er sich die englische Sprache nicht für seine Berufsausbildung eigen machen müssen, sondern seine Privatstudien hätten ihn darauf geführt. Der Volksunterricht führe jeden in alle Zweige menschlichen Wissens so weit ein, dass er auf autodidaktischem Wege sein Wissen bereichern könne, wie es ihm gutdünkt. Da er sich nun mit dem Studium des Standes der sozialen Frage im neunzehnten Jahrhunderte zu seinem Vergnügen befasse, habe er die Notwendigkeit empfunden, die Zeitungen, Pamphlete und sozialpolitischen Werke Englands und Amerikas aus jener Zeit zu durchforschen, und dazu sei ihm die Kenntnis der englischen Sprache, aber nur insofern notwendig gewesen, dass er fließend lesen und schreiben lernen musste, was ihm nach jahrelangen Bemühungen auch gelungen sei.
Mit dem romanischen Sprachenstamme sei er vertraut, da er sich als zweite Landessprache die italienische Sprache gewählt habe, und nachdem die englische Sprache eine Mischung von deutschen und romanischen Wörtern und Formen sei, habe er sich mit Hilfe der Grammatiken und Wörterbücher in der Gemeindebibliothek von Tulln und durch jahrelanges Lesen von englischen Büchern eine vollkommene Vertrautheit mit dieser Sprache erworben. Da er aber niemals jemand habe Englisch sprechen hören, verstehe er kaum ein einziges englisches Wort, das man zu ihm spricht.
„Das ist erstaunlich Prinzessin!“, wendete ich mich an diese, die darauf bemerkte: „Ihr dürft mich nicht Prinzessin heißen, denn die Töchter der adeligen Geschlechter gehören nicht dem Adel an und vermählen sich auch niemals mit Adeligen.“ Dabei streifte sie wieder unseren Freund Zwirner mit einem temperamentvollen Blicke, der mir schon mehrmals aufgefallen war. „Nennt mich also Lori Hochberg“, schloss das schöne Mädchen. Lori war eine imposante Erscheinung; lange kastanienbraune Flechten hingen über den Rücken herab, die funkelnden Augen und der schwellende Mund verrieten das zur Liebe geschaffene Weib und als ich jetzt meine Augen auch mit Wohlgefallen auf Zwirner ruhen ließ, ward es mir klar, dass das ein prächtiges Paar geben würde. Zwirner war ein schöner Mann von wahrer Hünengestalt und edler Haltung und nichts deutete auf seinen Beruf, als etwas starke und große Hände, die übrigens heute in Stulphandschuhen staken. Seine Tracht erinnerte an altdeutsche Bilder und war aus kurzgeschorenem Samt von verschiedenen Farben zusammengesetzt; die Beine waren bis zu den Knien mit Gamaschen aus feinem Leder bekleidet und den breitkrempigen Hut zierten Federn von verschiedenem Wildgeflügel.
Auch Zwirner schien seine Augen gerne über die schöne Gestalt Loris gleiten zu lassen, die er zum ersten Male sah. Aber er war durch Loris Benehmen nicht beunruhigt; im Gegenteile schwebte auf seinen Lippen immer ein Anflug von ganz leiser Ironie, die aber nichts Verletzendes hatte.
„Ich hatte noch nicht Zeit“, sagte er, „unsere amerikanischen Freunde über die Stellung unseres Adels, die Umgangsformen in Österreich und über unsere Auffassung von der Gleichheit der Menschen vollständig aufzuklären. Das will ich besorgen und deine Bemerkungen ergänzen. Doch bitte ich dich, liebe Freundin, den Gästen Aufschluss zu geben, welche Besuche heute erwartet werden, die ihnen interessant sein könnten.“
Wir wurden wieder ins Gespräch gezogen und da wir Lori unseren Beifall zu erkennen gaben, dass man in Österreich so verschiedenartige und geschmackvolle Trachten zu Gesicht bekomme, was sie wieder mit einem lächelnden Blicke auf Zwirners Prachtgestalt beantwortete, nahm sie eine Mappe von dem Tischchen, neben welchem sie Platz genommen hatte, und sagte: „Vergleicht nur einmal diese Trachten aus dem 19. Jahrhunderte und das verkrüppelte Menschengeschlecht jener Tage mit unseren heutigen Volkstypen.“ – Zwirner war damit vollkommen vertraut, da ihn seine Studien längst darauf geführt hatten, und er erzählte übrigens, dass man sich damals selbst über die zeitgenössische Tracht lustig machte und dass man die ungeschlachten zylinderförmigen Hüte „Ofenröhren“ nannte und die lächerlich verschnittenen Röcke „Frack“. –
Mittlerweile waren viele Besucher vorgefahren und obwohl alle durch unseren Saal verkehrten, hatte man uns nicht gestört, weil Lori niemand ermunterte, sich uns zu nähern, und die Besucher suchten daher den Fürsten in den nächsten Sälen auf, wo sich lautes Gespräch vernehmen ließ. Als aber der amerikanische Gesandte, ein verdrießlich aussehender Diplomat in lächerlicher Uniform, mit Miss Flower, seiner bleichsüchtigen Tochter, am Arme eintrat, erhob sich Lori, um uns bekannt zu machen. Die Begegnung war nur eine flüchtige und endete nach einigen Worten damit, dass die Flowers weiter pilgerten und wir unsere früheren Sitze wieder einnahmen.
Die Fenster waren geöffnet und eine balsamische Luft strömte von den weitläufigen Gärten herein, über die sich Dämmerung zu verbreiten anfing. Jetzt erklangen die Geigen im Tanzsaale und mit den Worten: „Die Zigeuner“, erhob sich Lori, was Zwirner nicht anders verstehen konnte, als dass er sie zum Tanze führen könne. Während sie seinen Arm nahm, rief sie uns freundlich zu: „Werft einen Blick in den Tanzsaal oder streift durch die Gärten, wir werden nur zum Schein zum Tanze antreten, der an einem Sommerabende nicht ernst genommen werden kann.“
Wir folgten dem schönen Paare und bewunderten den Tanzsaal, der, mit weißem Stuck ausgelegt und ohne Aufdringlichkeit mit Vergoldungen verziert, im elektrischen Lichte strahlte und nicht übermäßig heiß war, weil alle Fenster nach dem Parke offen standen. Wir entzogen uns bald dem Gewühle, um Loris Rate zu folgen und uns in den Gärten zu ergehen, in welchen Glühlichter in den Bäumen und Gesträuchen funkelten, Kaskaden und Springbrunnen plätscherten und einzelne Gruppen von Besuchern plaudernd lustwandelten.
Da wir uns nach dem Schlosse zurückwandten und unter den säulengetragenen Vorbau traten, dessen Boden mit schönem Mosaik, – man nennt das in Österreich Terrazzo – bekleidet war, kamen uns Lori und Zwirner entgegen, die, ein wenig vom Tanze erhitzt, sich noch etwas nähergekommen schienen. Ein vorübergehender junger Freund der Familie wurde gebeten, nachzusehen, ob unser Wagen schon vorgefahren sei, und als er mit der Nachricht zurückkam, der junge Stirner, – so der Name unseres Rosselenkers –, erwarte uns mit Ungeduld, weil die Pferde nicht stillstehen wollten, verabschiedeten wir uns von Lori mit der Bitte, uns dem Fürsten zu empfehlen, dessen Gastfreundschaft wir genossen. „So ist es wohl nicht“, entgegnete Lori lachend, „Herr in diesem Hause sind die Völker Österreichs, aber ich werde den Vater in eurem Namen grüßen.“ Zwirner schüttelte sie herzlich die Hand, nicht ohne ihm lächelnd ins Auge zu blicken, uns winkte sie freundlich zu und schon war sie nach dem Garten verschwunden. Wir stiegen in den Wagen und auf der Heimfahrt in einer köstlichen Sommernacht stellten wir Zwirner zur Rede über sein Verhältnis zu Lori. Er sagte, er habe Lori heute zum ersten Male gesehen, und, da beide unvermählt seien und heiraten könnten, wäre eine Vermählung nur davon abhängig, dass sie sich liebgewännen. „Lori zeigte mir so viel Wohlgefallen, als schicklicherweise geschehen konnte, und ohne solche Aufmunterung würde kein junger Mann es wagen, einem Mädchen seine Liebe zu gestehen. Aber so entzückend ich auch Lori finde, so ist es doch allgemeine Sitte nur langsam sich zu nähern und sich nicht vom ersten Anblicke ganz gefangen nehmen zu lassen. Die Ehe wird bei uns ernst genommen, soviel man auch unverheirateten und verwitweten Leuten durch die Finger sieht. Davon aber ein andermal, denn das Thema können wir heute nicht erschöpfen.“
Eben fuhren wir vor unserem Wohnhause vor und da es schon Mitternacht war und wir statt des Abendbrotes bei Hochberg mit etwas Tee und Aufschnitt waren versorgt worden, gingen wir zu Bette, ohne noch in den Speisesaal zu gehen, wo wir noch Licht sahen.