Späterland. Julia A. Jorges
Das ist kein schlechtes Alter für eine Katze.«
»Wirklich alt aber auch nicht«, rief Tarja. »Und ich finde es unfair, dass Mama allein bestimmt hat, was gemacht wird.«
Clemens Wilbert legte einen Arm um seine Tochter. »Mama und ich haben Pluto doch auch gerngehabt. Und Mama wollte uns zusätzlichen Kummer ersparen.« Er seufzte erneut. »Ehrlich gesagt bin ich ganz froh darüber. Ich weiß genau, wie das ist, ein Haustier zu verlieren.«
»Ja?« Tarja schluckte die Tränen hinunter.
»Als Kind hatte ich einen Hund. Da war ich ein bisschen älter als du, dreizehn oder vierzehn. Eigentlich gehörte er Oma Petra und Opa Gregor, aber das spielt keine Rolle. Er war ein Collie und sah fast aus wie Lassie, hieß aber Beppo.«
»Beppo, der Clown.« Gegen ihren Willen musste Tarja grinsen. Sie erinnerte sich an eine Zeichnung von Clown Beppo in einem ihrer alten Kinderbücher, und prompt stellte sie sich einen Collie mit roter Pappnase vor.
»Stimmt, ein Clown war er. Wir hatten viel Spaß miteinander. Ganze Wochenenden haben wir im Wald hinter dem Haus verbracht. Bis er von einem Fuchs gebissen wurde.« Papa verzog das Gesicht. »Tollwut. Der Fuchs war infiziert. Beppo ist gerade mal sechs geworden. Der Veterinärdienst kam und erschoss ihn auf unserem Hof. Dort, wo Opa ihn angeleint hatte. Anders wären sie nicht an ihn rangekommen, zu gefährlich. Ich habe es vom Fenster aus beobachtet. Das Bild hatte ich noch jahrelang im Kopf.« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich konnte von Glück sagen, mich nicht bei Beppo angesteckt zu haben. Oder jemand anderes aus der Familie. Wir mussten alle vorsorglich geimpft werden, sogar mehrfach. Ich kann deine Trauer also gut nachvollziehen. Aber wenn du es hättest mit ansehen müssen, wäre es noch schmerzhafter gewesen. Es braucht Zeit, aber nach und nach vergeht das Gefühl.«
»Ist gut, Papa«, sagte Tarja, aber nichts war gut. Im Augenblick gab es keinen Trost für sie. »Ich möchte jetzt schlafen.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Tarja. Schlaf die Traurigkeit weg. Morgen sieht die Welt schon ein klein wenig besser aus.«
4. Der Eindringling
Der Morgen kam, und die Welt sah nicht besser aus, kein bisschen. Am liebsten hätte Tarja sich umgedreht und einfach weitergeschlafen, aber sie musste zur Schule. Ihre Eltern hatten noch am vorigen Abend Katzentoilette, Korb und Kratzbaum abgebaut. Die Wohnung erweckte den Anschein, als habe hier nie eine Katze gelebt.
Mama empfing sie mit Pfannkuchen statt des üblichen Frühstückstoasts, wahrscheinlich um sich mit ihr zu versöhnen. Dabei war das nicht nötig, Tarjas Zorn war längst verraucht. Was blieb, war die schmerzende Leere in ihrem Herzen.
Frau Wilbert legte Tarja ein blaues Halsband neben den Teller. »Das habe ich gestern vergessen. Vielleicht möchtest du es ja behalten.«
Plutos Halsband. Das silberne Glöckchen daran hatte die Singvögel warnen sollen, wenn er seine Streifzüge in die Gärten hinter dem Wohnblock unternahm. Ins Freie war er über den Balkon der Wilberts im ersten Stock und den dicht am Haus wachsenden Ahorn gelangt, an dessen Stamm er immer hinabkletterte.
»Danke.« Tarja schluckte und packte das Halsband in ihren Schulrucksack.
Ihre Mutter lächelte und strich ihr übers Haar.
Als Tarja am Nachmittag nach Hause kam, suchte sie ein passendes Lederbändchen aus ihrer Schmuckkiste, befestigte die kleine Glocke daran und hängte sie sich um den Hals. In einer mit Glanzpapier und bunten Steinen beklebten Schachtel verstaute sie das Halsband sowie alle Spielzeugmäuse und -bälle, die ihre Eltern übersehen hatten, außerdem jedes Schnurrhaar, jede verlorene Kralle, die sie beim Durchforsten der Wohnung fand. Anschließend ging sie noch einmal los, um im Drogeriemarkt um die Ecke die schönsten Handyfotos auszudrucken und auch gleich Rahmen dafür zu kaufen. Wieder daheim funktionierte Tarja ihren Nachttisch zur Gedenkstelle um. Wenn es schon kein Grab gab, auf das sie Blumen legen konnte, besaß sie auf diese Weise wenigstens einen besonderen Platz, der nur ihr und Pluto gehörte.
In den folgenden Tagen und Wochen betrachtete Frau Wilbert die Schachtel auf dem mit allerlei Blumen, Zweigen und Steinchen dekorierten Tisch mit zunehmender Missbilligung, jedenfalls kam es Tarja so vor. Wahrscheinlich hätte Mama es am liebsten gesehen, wenn sie Pluto einfach vergessen hätte. Tarja schien das unvorstellbar. Es gab Momente, in denen sie abgelenkt war, aber darunter nagte weiter die Trauer an ihr, während für ihre Eltern das Leben normal weiterging. Als ob es Pluto nie gegeben hätte.
Eines Tages nach der Schule wartete Papa im Treppenhaus auf sie. Mit verschwörerischer Miene öffnete er die Tür langsam einen Spaltbreit und forderte sie auf, hineinzugehen.
Weshalb war er so früh daheim?
Tarja staunte: Die Katzenutensilien, von denen sie geglaubt hatte, Mama und Papa hätten sie weggeworfen, standen wieder an ihrem Platz.
Bevor sie darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, huschte etwas über den Flur. Klein, mit weißen, braunen und schwarzen Flecken. Eine junge Katze!
Tarjas Herz verkrampfte sich. Immerhin hatten sie nicht versucht, Pluto allzu plump zu ersetzen, indem sie eine Katze mit demselben tiefschwarzen Fell kauften, aber trotzdem – sie wollte kein neues Haustier!
Tarja betrat das Wohnzimmer. Die Katze hockte auf Plutos Kratzbaum und schaute Tarja aus runden grünen Augen an. Dann sprang sie hinab, sauste an ihr vorbei, über den Flur und kurz darauf wieder zurück, um einen Zwischenstopp auf dem Sofa einzulegen.
»Schsch«, machte Papa und wedelte mit einem Kissen, als der Wildfang begann seine Krallen an der Lehne zu wetzen. »Na, wie findest du sie, Tarja?«, fragte er. »Sie hat noch keinen Namen. Mama und ich wollten, dass du einen aussuchst.«
»Mir egal«, murmelte Tarja, machte auf dem Absatz kehrt und verzog sich in ihr Zimmer.
»Sie haben mich schon wieder nicht gefragt«, berichtete sie Pluto, während sie ihr Lieblingsfoto von ihm in der Hand hielt. Sorgfältig wischte sie den wenigen Staub ab, der sich darauf angesammelt hatte, bevor sie es neben die Schachtel auf den geschmückten Nachttisch stellte. »Nie fragen sie mich, wenn sie eine wichtige Entscheidung treffen. Ich will keine neue Katze. Ich will dich zurück, auch wenn ich weiß, dass es nicht geht.« Eine Träne tropfte auf den roten Samt, den Tarja über das Tischchen gebreitet hatte. Weitere folgten und ihr Blick auf das Foto verschwamm.
5. Katzen und Hunde
Sommerwind fächerte ihr braunes Haar. Er strich über die Halme der Wiese und verwandelte sie in ein grün wogendes Meer mit bunten Blüten-Fischen darin. Eine knorrige Eiche ragte daraus hervor, umwuchert von einem Dickicht aus Sträuchern. Tarja lief darauf zu. Im und um den Baum bewegte sich etwas. Schemen huschten zwischen den Ästen, geschmeidig, wie es nur eine Tierart vermag. Schon hörte Tarja die dazugehörigen Laute, das mal durchdringende, mal leise Miauen, hin und wieder ein Fauchen. Eine dreifarbig gescheckte Glückskatze kauerte vor dem Dickicht und musterte Tarja. Dann sprang sie auf, rannte zu Tarja und strich ihr um die Beine, dabei maunzte sie auffordernd. Gleich darauf verschwand sie zwischen den Büschen, um kurze Zeit später auf einem der unteren Äste der Eiche aufzutauchen.
Tarjas Herz machte einen Sprung – neben der Glückskatze saß ein weiteres Tier, drahtig, hochbeinig und nachtschwarz. Pluto! Sie rief seinen Namen. Der Kater blinzelte ihr zu, rührte sich aber nicht. Fieberhaft versuchte Tarja zu ihm zu gelangen, doch das dornige Gestrüpp wies keine Lücke auf.
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