Späterland. Julia A. Jorges
das wusste sie, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben. Vermutlich glaubte sie an überhaupt keinen Himmel, sie ging ja nicht mal in die Kirche.
Monika Wilbert machte eine Handbewegung in Richtung Nachttisch. »Das räumst du auf jeden Fall weg«, ordnete sie an – mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dann brauste sie aus dem Zimmer.
Mitten in der Nacht wurde Tarja durch ein leises Klingeln geweckt. Erst dachte sie, es gehöre zu ihrem Traum, aber dann merkte sie, dass sie nicht mehr schlief und das Geräusch immer noch hörte.
Plutos Glöckchen!
Das Erstaunliche daran war, dass sie das Band über Nacht abnahm und neben sich auf den Nachttisch legte. Wie konnte es dann aber klingeln?
Sie öffnete die Augen. Weil das Licht der Straßenbeleuchtung durch das Rollo schimmerte, war es im Zimmer nicht ganz dunkel. Tarja drehte den Kopf zur Seite und erblickte das matt glänzende Glöckchen. Es lag da und klingelte. Eine Gänsehaut überlief sie. Das unheimliche Gefühl schloss nahtlos an ihren Traum an, in dem sie Pluto gesehen hatte, wie er unter einer Masse von zottigen Körpern begraben wurde. Gefletschte weiße Zähne und rot funkelnde Augen hatten aus den Fellen herausgeblitzt. Dann war die Meute fortgelaufen und hatte ihn mit sich genommen.
Tarja setzte sich kerzengerade im Bett auf. Plötzlich war alles ganz klar. Pluto brauchte ihre Hilfe! Das war die einzig logische Erklärung für das Klingeln und die Träume. Irgendwie musste sie einen Weg in diese andere Welt finden, und zwar in Wirklichkeit, nicht bloß im Traum!
Als ob ihre stumm getroffene Entscheidung gehört worden war, verstummte das Glöckchen.
In der wiedergekehrten nächtlichen Stille saß Tarja im Bett und grübelte. Wenn Späterland existierte, musste es einen Weg dorthin geben, eine Brücke. In ihrer Vorstellung hatte diese Brücke aus den Strahlen des Regenbogens bestanden, aber wie half ihr das weiter? Es sei denn … Sie hatte stets einen bestimmten Regenbogen vor Augen gehabt, wenn sie in ihrer Fantasie nach Späterland reiste. Den über dem Grausteinfall! Aus dem Physikunterricht wusste sie, dass der Regenbogen durch die Wassertröpfchen entstand, die das Sonnenlicht in seine einzelnen Farbbestandteile zerlegten. Sie war jedes Mal fasziniert gewesen, wenn sie mit Oma Petra und Opa Gregor, seltener mit ihren Eltern, einen Ausflug dorthin unternommen hatte. Konnte es so einfach sein?
Morgen war Sonnabend und das Wetter sollte gut werden. Tarja beschloss eine Radtour zu machen.
7. Am Grausteinfall
Kraftvoll trat Tarja in die Pedale, der Wind wehte ihr die langen Haare aus der Stirn. Auf der zwanzigminütigen Fahrt entlang der Landstraße war ihr bereits ordentlich warm geworden, doch der anstrengendste Teil lag noch vor ihr. Schon begann die Straße anzusteigen, um nach der nächsten Kurve noch ein paar Prozente zuzulegen. Bis auf zwölf, wie das Hinweisschild anzeigte, und damit genug, um im Winter Autofahrern, die ohne Schneeketten unterwegs waren, Probleme zu bereiten.
Tarja japste nach Luft, ihre Beine schmerzten. Egal. Eine Pause würde sie sich erst gönnen, wenn sie am Grausteinfall anlangte. Es war noch früh, halb neun, und weil die Sommerferien erst übernächste Woche anfingen, würden hoffentlich keine Wanderer unterwegs sein.
Endlich hatte Tarja den steilen Abschnitt bewältigt und bog auf einen Waldweg ab. Immer noch schnaufend schloss sie ihr Fahrrad an einen Baum, den dichtes Gebüsch verdeckte, sodass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Seit ihr letztes Rad gestohlen worden war, traf sie Vorsichtsmaßnahmen, damit dem neuen nicht dasselbe Schicksal widerfuhr. Den Helm hängte sie an den Lenker.
Den letzten Teil der Strecke würde sie zu Fuß zurücklegen. Sie war so ins Schwitzen gekommen, dass sie ihre Sommerjacke auszog und sie sich um die Taille band. Dann nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie vorhin in den Rucksack gepackt hatte – zusammen mit einer orange-rot karierten Picknickdecke, ihrem Smartphone und etwas Verpflegung.
Um sie herum zwitscherten Vögel, und schon hier konnte sie das donnernde Rauschen des Wasserfalls hören. Von unten war schlecht an ihn heranzukommen, dazu hätte sie über Morast und glitschige Steine klettern müssen. Also ging sie durch den Wald, über einen mit Wurzeln und Steinen gespickten Pfad, bis sie das Sprühen der Gischt durch die Baumstämme erkennen konnte.
Oben angekommen blieb Tarja an dem hölzernen Geländer stehen, das Besucher davon abhalten sollte, am Steilhang neben dem Wasserfall herumzuklettern. Eine Weile beobachtete sie, wie das Wasser über die Felsen hinabstürzte. Obwohl die Wildheit des Baches sie beeindruckte, kam es Tarja so vor, als sei der Wasserfall früher mächtiger gewesen. Ob es daran lag, dass sie lange nicht mehr hier gewesen und in dieser Zeit gewachsen war? Vielleicht war auch die anhaltende Trockenheit schuld, die den Pegel des Grausteinbachs hatte absinken lassen.
Weit und breit ließ sich niemand blicken.
Was nun? Wie sollte der Wasserfall ihr helfen, nach Späterland zu gelangen?
Auf einmal fand Tarja ihre Idee kindisch. Was hatte sie sich erhofft? Dass aus dem Nichts eine Brücke wuchs und sie einfach hinüberspazieren konnte? Späterland war ein Fantasieprodukt ihrer Kindheit. Aber jetzt war sie zwölf Jahre alt, zwölfdreiviertel, um genau zu sein.
Obwohl sie sich gern in den fantastischen Welten ihrer Bücher vergrub, in denen Tiere sprechen konnten und Magie wie selbstverständlich zum Leben dazugehörte, wusste sie, dass nichts davon real war. Da hätte sie auch wieder an den Weihnachtsmann glauben können.
Plötzlich bemerkte sie den Bogen aus buntem Licht, der sich über einen vorstehenden Felsen auf halber Höhe des Wasserfalls spannte. Im selben Moment klingelte das Glöckchen an ihrem Hals. Das genügte als Zeichen.
Tarja vergewisserte sich, dass sie allein war, dann schwang sie sich mit dem Rucksack auf dem Rücken über das Geländer und wagte den Abstieg.
Es ging einfacher als erwartet, denn überall ragten Wurzeln und fest sitzende Steine aus dem Erdreich, an denen sie Halt fand. Als sie die Stelle erreichte, über der sie den Regenbogen gesehen hatte, pfiff Tarja leise. Da war eine Höhle! Ziemlich weit seitlich, halb verborgen vom feinen Sprühnebel. Wenn der Pegel des Baches höher war, musste die Höhle komplett hinter dem Wasservorhang versteckt sein, aber jetzt könnte sie hinübergelangen.
Über ihr kollerten Kiesel. Tarja schrak zusammen. Hatte sie jemand beobachtet? Das bedeutete Ärger, denn es war verboten, über die Absperrung zu klettern. Und zusätzlichen Ärger konnte Tarja wahrhaftig nicht gebrauchen. Mama hatte heute Morgen noch immer verstimmt gewirkt, sicher auch, weil sie schon wieder das Glöckchen trug. Als sie ihr von der geplanten Radtour erzählte, hatte sie bloß genickt, ohne die üblichen Ermahnungen, vorsichtig zu sein und ja den Helm aufzusetzen. Aber einerlei, wer da oben herumschlich, es gab kein Zurück mehr. Sobald sie die Höhle erreichte, war sie vor fremden Blicken geschützt.
Die restlichen Meter musste Tarja über algenbedeckte Steine klettern, die kaum Halt boten. Ihr Fuß glitt ab. Fast wäre sie weggerutscht und in den kleinen Teich unten am Wasserfall gestürzt. Im letzten Moment gelang es ihr, sich an dem breiten Vorsprung vor der Aushöhlung im Fels emporzuziehen. Schnell tauchte sie unter dem Vorhang aus feinem Nebel hindurch und kletterte hinein.
Ein sagenhafter Anblick bot sich ihr von dort aus. Wie luftige weiße Gardinen hingen perlende Wasserströme über dem Eingang. Dahinter lugten Baumwipfel hindurch, über denen die gelbe Sonnenscheibe emporstieg. Die Höhle selbst war feucht und nicht besonders groß, kaum zwei Meter breit und noch weniger tief. Dennoch war sie ein grandioses Versteck, wenngleich nichts auf eine verborgene Brücke oder sonst einen magischen Durchgang hindeutete, wie Tarja enttäuscht feststellte.
Wieder polterten Steine herab und schlugen mit lautem Platschen in den