Späterland. Julia A. Jorges

Späterland - Julia A. Jorges


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Tarja. Im Unterholz raschelte es. Blitzschnell erklommen ein Dutzend Katzen die Eiche. Auch Pluto und die Glückskatze kletterten höher hinauf, um sich im dichten Laubwerk zu verbergen.

      Die Hunde kamen in Sichtweite. Zehn große, kräftige Tiere, vielleicht auch mehr.

      Tarja sah gefletschte Zähne, gesträubtes Fell. Das wütende Knurren trieb sie zwischen die Dornen, die sie festhielten. Hinter ihr ertönte Hecheln, ganz nah.

      Sie schrie …

      Tarja schreckte hoch. Ihr Pyjama klebte nass geschwitzt am Körper. Sie schüttelte den Albtraum ab und bemühte sich nur diejenigen Traumfetzen festzuhalten, die Pluto gezeigt hatten. Ihr war klar, dass man im Schlaf Dinge verarbeitete, die einen im wachen Leben beschäftigten. Bestimmt entsprang ihr Traum dem Wunsch, Pluto würde irgendwo weiterleben.

      Nicht irgendwo, durchzuckte es sie, in Späterland. Dass sie daran nicht früher gedacht hatte!

      Als sie klein war, noch bevor sie in die Schule kam, hatte sie Späterland erfunden, den Tierhimmel. Tarja wusste noch genau, warum: Das Meerschweinchen von Hedda, ihrer Kindergartenfreundin, war gestorben und sie waren sich einig gewesen, es müsse nun in den Himmel kommen. Damals hatte Oma Petra noch gelebt und Tarja war oft bei ihr gewesen. Als sie ihr von dem Meerschweinchen erzählte, hatte die Großmutter ihr sehr ernst erklärt, der Himmel sei den Menschen vorbehalten, weil Tiere keine unsterbliche Seele besäßen.

      Tarja hatte das mit der Seele nicht ganz verstanden, vor allem nicht, warum Menschen eine haben sollten und Heddas Meerschweinchen nicht. Es schien ihr höchst ungerecht. Deshalb hatte sie sich Späterland ausgedacht, in das die Tiere nach ihrem Tod gelangten – über die Regenbogenbrücke. Dort war es schön, es herrschte immer Sommer und all die gestorbenen Haustiere lebten glücklich und in Frieden.

      Im Laufe der Zeit hatten sie und Hedda sich Späterland immer detaillierter ausgemalt. Sie erschufen Landschaften sowie Fantasiewelten, die über Brücken mit Späterland verbunden waren. Auch vom Himmel der Menschen aus war Späterland zu erreichen, damit die Verstorbenen ihre Haustiere besuchen konnten und umgekehrt. Wie es sich für ein Zauberreich gehörte, besaß der Tierhimmel noch einen anderen, geheimen Namen. Dieser hatte die Macht, einen an jeden beliebigen Ort zu befördern, wenn man ihn aussprach. Aber wie lautete er? Tarja erinnerte sich nur daran, dass er irgendwie exotisch geklungen hatte. Hedda und sie hatten sich geschworen, ihn nie jemand anderem zu verraten. Schade, dass ihre Freundin schon wenig später fortgezogen und der Kontakt abgebrochen war, sonst hätte sie sie fragen können.

      Tarja kuschelte sich im Bett zurecht und versuchte wieder einzuschlafen. Der Gedanke, Pluto würde in Späterland weiterleben und dort auf sie warten, gefiel ihr, auch wenn sie wusste, dass aus einer erfundenen Geschichte niemals Realität werden konnte. Höchstens im Traum.

      Nur die wilden Hunde bereiteten ihr Kopfzerbrechen.

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      Seit einer geschlagenen Viertelstunde jagte die neue Katze einer Fellmaus hinterher. Einer neuen, denn Plutos Mäuse hielt Tarja unter Verschluss.

      Clemens Wilbert schnappte sich das Spielzeug, um es erneut zu werfen. »Willst du nicht auch mal mit Bonnie spielen?«, forderte er Tarja auf, die auf dem Sofa saß und in der neuesten »Ein Herz für Tiere«-Zeitschrift blätterte.

      Ihre Eltern hatten der Katze den Namen verpasst, weil Tarja sich hartnäckig weigerte, Interesse an dem Tier zu zeigen.

      Tarja zuckte daher auch jetzt mit den Schultern und hob den Blick nicht von ihrer Lektüre.

      »Wir wollten dir mit Bonnie eine Freude machen«, sagte ihr Vater leicht gekränkt. »Genau genommen war es meine Idee. Vielleicht nicht die beste, die ich hatte, denn die Kleine kann dir Pluto nicht ersetzen, ich weiß, aber gib ihr wenigstens eine Chance.«

      »Mal sehen …«, sagte Tarja. »Pluto war geschickter mit der Maus.«

      Niedlich war die junge Glückskatze schon. Linda war hellauf begeistert gewesen, als sie neulich zu Besuch kam. Aber sich mit ihr zu beschäftigen – sie gern zu haben –, fühlte sich wie Verrat an Pluto an.

      Tarja sah sich um. Bonnie war weg. Wohin war sie auf einmal verschwunden?

      In Tarjas Zimmer polterte es. Sofort eilte sie hinüber und überraschte Bonnie, wie sie auf dem Nachttisch saß und die frische Rosenblüte zerpflückte, die Tarja erst vorhin neben Plutos Porträt gelegt hatte. Das Bild lag jetzt auf dem Boden. Immerhin war der Rahmen heil geblieben.

      »Verschwinde!« Tarja scheuchte die Katze hinaus und schloss die Tür, um vor weiteren Attacken geschützt zu sein. Dann gähnte sie herzhaft. Letzte Nacht hatte sie wieder schlecht geschlafen. Seit einer Woche ging das jetzt so, seit sie das erste Mal von Pluto geträumt hatte. Immer fand sie sich auf der Wiese in Späterland wieder, in der Nähe des Katzenbaums. Dann tauchte die Hundemeute auf, und Tarja schrak in heller Panik hoch. Zuletzt hatte sie festgestellt, dass die Hunde sich kein bisschen für sie interessierten. Sie waren einzig hinter den Katzen her. In dieser Hinsicht entsprach die Traumwelt überhaupt nicht dem Späterland der kleinen Tarja, wo sich alle Tiere miteinander vertrugen. Im letzten Traum waren ein paar der Hunde in das Bollwerk aus Sträuchern eingedrungen, und es entstand ein wütendes Streitgespräch zwischen den Tierarten. Das Knurren und Bellen der am Stamm hochspringenden Hunde wurde aus der Baumkrone mit Fauchen und kehligem Grollen beantwortet.

      Urplötzlich mischte sich eine menschliche Stimme, die Tarja beim Namen rief, unter ihre Erinnerungen.

      »Tarja? Warum antwortest du nicht?«

      Mama. Tarja seufzte. Hatte man hier nie Ruhe?

      Als Mama ins Zimmer kam, streifte ihr Blick den Nachttisch und sie zog die Brauen zusammen. »Wird es nicht langsam Zeit, dass du diesen Altar abbaust?«

      »Wieso? Mir gefällt’s. Und Pluto würde es auch gefallen.«

      »Papa und ich verstehen deine Trauer, aber wir befürchten, dass du dich zu sehr hineinsteigerst. Dieser Totenkult …« Sie deutete auf den Tisch. »Und dann das Glöckchen um deinen Hals. Ich kann das dauernde Geklingel nicht mehr hören, so leid es mir tut.«

      Tut dir gar nicht leid, dachte Tarja. Wobei Mama recht hatte, was das Klingeln anging. Es ertönte bei jeder noch so kleinen Bewegung, manchmal sogar, wenn sie sich nicht bewegte.

      »Jedenfalls denken wir, es wäre besser, du suchst ein besonders schönes Foto aus. Das vergrößern wir und hängen es auf. Den Rest packst du in die Schachtel zu den anderen Sachen und wir stellen sie auf den Dachboden. Damit der Tisch endlich wieder frei für deine Bücher ist.«

      Tarja schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch bloß, dass ich Pluto vergesse.«

      Mama presste die Lippen zusammen. Der Ärger war ihr anzumerken, obwohl ihre Stimme beherrscht klang. »Allmählich kann ich es nicht mehr hören. Tarja, wir machen uns Sorgen um dich! Du vergräbst dich in deinem Zimmer, du isst kaum, du sprichst nicht mit uns. Und wenn doch, geht es um den Kater. Du darfst dich ja an ihn erinnern, aber du musst endlich akzeptieren, dass er nicht mehr da ist.«

      Tarja blätterte in ihrem Katzenbuch.

      »Die Zeugnisse stehen an. Und die letzten beiden Arbeiten sind nicht gerade glänzend ausgefallen.«

      »Was hat das damit zu tun?« Jetzt reichte es Tarja. »Als Alexejs Vater gestorben ist, hat er eine Weile nur Vieren und Fünfen geschrieben und alle hatten Verständnis.«

      »Das kannst du doch nicht vergleichen«, schnappte Mama. »Sein Vater, Herrgott noch mal!«

      Tarja fand, man könne das sehr wohl vergleichen, ein bisschen zumindest. Liebe war Liebe. Trauer war Trauer, ob um Mensch oder Tier.


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