Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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mindestens 1.000 Kilometer bis Ende März. Ein »klein wenig Training« deutet auf 1.500 bis 2.000 Kilometer hin. Auffällig ist auch, dass Radfahrer vor Beginn einer gemeinsamen Trainingsfahrt grundsätzlich sterbenskrank sind oder es gerade waren. Wobei sich die Heftigkeit der Krankheit umgekehrt proportional zur eigenen Leistung verhält. Wer nichts draufhat, wurde noch bis vorgestern von einem unbekannten Virus aus der afrikanischen Graswurzelsteppe malträtiert, der ältere Menschen oder Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet hätte. Deshalb sei es sowieso ein Wunder, dass man überhaupt auf dem Sattel sitzen könne. Gut kommt auch eine rätselhafte Autoimmunerkrankung, die noch nicht exakt diagnostiziert werden konnte, aber einen furchtbar quält. Meist handelt es sich dabei schlicht um einen Schnupfen. Seltsamerweise jammert Brägel nicht; und er ist verdammt gut in Form. »Na, Alter, hast wohl schon ’ne Menge trainiert?«, frage ich. Die Antwort ist klar: »Nein, so gut wie nicht, höchstens 100 Kilometer bisher und ein-, zweimal Hometrainer.« Geschenkt.

      WER, BITTE, IST JAN ULLRICH?

      RADPROFIS, FUSSBALLER, AUTORENNFAHRER – WELCHE SPORTLER SIND DENN NUN DIE GRÖSSTEN?

       1994 bis 2001

      Brägel befindet sich zur Zeit im Wintertraining, wie er das nennt. Das bedeutet: Der Lapp schaufelt jeden Abend beim Italiener Unmengen Pasta in sich rein, garniert mit einer Drei-Mann-Dosis Chianti. Neulich habe ich mich erweichen lassen und bin mitgegangen.

      Am Tisch sitzen noch zwei Herren, die etwas befremdet aus der Wäsche schauen, als Brägel nach Vorspeisen, Fettucini mit Steinpilzen und Pizza Tonno noch eine Portion Spaghetti Carbonara ordert. Brägel blökt: »Ullrich, meine Herren, nimmt im Winter auch immer zu.« Das mag ja sein, nur wiegt der selbst nach 24 Dinnerparties noch zehn Kilo weniger als Brägel vor seiner Mast, will ich gerade einwerfen, als einer der Männer fragt: »Verzeihung bitte, aber wer ist Ullrich?« Brägel starrt fassungslos sein Gegenüber an, aus seinem offenen Mund fällt ein Stück Tunfisch-Pizza in den Chianti.

      Einige Minuten später hat sich geklärt, dass wir mit einem Fan von Bayern München und einem Formel-1-Freak am Tisch sitzen. Urplötzlich waren wir mittendrin in einer heftigen Diskussion über Für und Wider der Sportarten. »Fußballer, ha«, höhnt Brägel. Das seien doch alles grinsende Sonnenbank-Zombies, Goldkettchenträger, schwafelnde Dummbeutel, die den ganzen Tag nur »Ich sach mal« oder »Ja gut« rausbringen. »Und bei Länderspielen müssen die immer den Text der Nationalhymne auf der Anzeigetafel ablaufen lassen, weil der Basler sonst wieder oins, zwoa, gsuffa brüllen würde.«

      Der Bayernfan holt Luft und fährt den Konter. »Hören Sie doch auf mit Ihren Stramplern. Die sind ja wie Hamster im Laufrad. Und dazu noch vollgestopft mit Chemie. Lauter radelnde Apotheken. Wie die schon aussehen mit ihren lächerlich bunten Hemdchen, den Nachttöpfen auf dem Kopf und den Angeber-Sonnenbrillen.« Ganz nebenbei seien die Rennen auch stinklangweilig, weil man wochenlang zuschauen muss, bis endlich einer gewinnt. Und dazwischen passiert nichts, außer die Polizei nimmt Hotelzimmer auseinander.

      Quatsch, mault Brägel, allein die Kunst beim Sprint, der runde Tritt am Berg, die diffizile Steuertechnik bei der Abfahrt – das Stichwort für den Schumi-Fan: »Technik, Geschwindigkeit, das Spiel im Grenzbereich; das hat keiner besser im Griff als Schumacher«, schwärmt er. Dafür bläst er Tonnen Dreck in die Luft, maulen die anderen. Mag sein, aber das sei ökologisch auch nicht schlimmer, als wenn die Bayernspieler nach dem Training ihre S-Klasse starten oder ein gedopter Radler seinen sondermüllpflichtigen Urin in eine Wiese pinkelt.

      Jetzt waren wir mittendrin in der schönsten Schreierei. Einmischen sinnlos. Aber die Frage bleibt: Welche Sportart taugt zu was? Hier nun die ultimativen Definitionen, die, logischerweise, wissenschaftlich abgesichert sind:

      Berufsfußballer sind Menschen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie einmal in der Woche luftgefüllten Lederkugeln hinterherrennen. Die Kugeln werden meist mit dem Fuß, gelegentlich auch mit dem Kopf geschlagen, wobei letzteres in vielen Fällen dazu führt, dass Berufsspieler im Lauf der Jahre ein eher einfaches Gemüt entwickeln. Bestätigt wurde dies jüngst durch einen Test. Auf die Frage: »Welches Buch beeindruckt Sie am meisten?«, antworteten 94,6 Prozent mit: »Mein Sparbuch«. Weitere Nennungen: »Drei Schwedinnen auf Ibiza« und: »Kicker-Sonderheft Bundesliga«. Fußballer haben deshalb Trainer, die ihnen sagen, wo das Tor steht und wieviel Uhr es ist. Dazu noch Manager, die ihre Verträge aushandeln, sie bescheißen und sie am Ende ihrer Karriere in eine Lottoannahmestelle oder eine Auto-waschanlage entlassen.

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      Berufsradfahrer verdienen ihr Geld sehr viel härter. Die meisten haben in ihrer Jugend auch mal versucht, Loddarmadäus zu werden, wurden aber als Grobmotoriker ausgemustert. Wie Fußballprofis auch, verbringen sie den Januar meist auf einer Kanaren- oder Baleareninsel zum Training. Fußballprofis erkennt man an der Golftasche, Radprofis am etwas ungelenken Gang und Badelatschen mit drei Streifen. Berufsfahrer verdienen zwar sehr viel weniger Geld als Kicker, bekommen dafür aber Medikamente umsonst, die andere noch nicht einmal kaufen können. Außerdem werden sie nahezu ununterbrochen ärztlich untersucht und sind deshalb die gesündesten Menschen auf diesem Planeten. Dafür müssen sie während der Saison jeden Tag arbeiten und oft genug in lausigen Hotels schlafen. Radprofis brauchen selten einen Manager und haben am Ende ihrer Karriere fünf Alternativen: Radgeschäft, Sportlicher Leiter, Co-Kommentator ARD, Co-Kommentator Eurosport oder Pharma-Repräsentant.

      Formel-1-Helden haben den härtesten Job. Sie müssen derart schnell um die Kurven jammern, dass es ihnen beinahe den Kopf von den Schultern reißt. Deshalb trainieren sie neun Stunden am Tag ihre Halsmuskulatur, was derart anstrengend ist, dass es einem das Kinn dauerhaft verzieht – siehe Michael S. Daneben müssen die Herren unentwegt langbeinige Blondinen mit Sonnenbrillen abwehren und sich um so lästige Dinge wie einen Liegeplatz für die Yacht in St.-Tropez kümmern. Ihre wenige Freizeit nutzen sie zum Fußballspielen, Radfahren oder Kinder zeugen. Sollte nicht ein kleiner Schraubenbruch bei Tempo 350 die Karriere beenden, droht Rennfahrern am Ende die totale Öde. 30 Jahre lang auf der Luxusyacht durch die Südsee – ein Alptraum, weshalb viele so lange in anderen Rennserien weiterfahren, bis doch noch ein Schräubchen bricht, oder auf Polo oder Hundeschlittenrennen umsatteln.

      Die drei Herren in der Kneipe jedoch sind strengen Definitionen nicht zugetan. Sie brüllen weiter, wobei ein Verlierer feststeht. Brägels Carbonara sind kalt geworden.

      KONZENTRATION AUFS WESENTLICHE

      DIE STARS MACHEN ES VOR: MAN KANN NICHT DAS GANZE JAHR ÜBER IN BESTFORM SEIN. JEDER BRAUCHT SEINEN SAISONHÖHEPUNKT …

       1994 bis 2001

      Zu meiner großen Freude kommt Brägel zur Zeit ziemlich bleich daher. »Na, Alter, was ist? Hast du Grippe, oder ist deine neue Flamme doch wieder mit einem anderen abgezwitschert?« Eigentlich müsste er nach so einer Ansprache am Montagmorgen aus der Haut fahren. Wenigstens ein kleines bisschen. Statt dessen nimmt mich der Lapp mit Leidensmiene zur Seite. »Pass gut auf«, flüstert er. Und dann geht es los. Von wegen Grippe. Er habe sich beim Italiener durch eine mit alter Sahne verhunzte Lasagne eine Schädigung seiner empfindlichen Darmflora zugezogen (Durchfall). Das wiederum hatte eine katastrophale Störung seines Trainings zur Folge. Besonders, weil auch noch eine hartnäckige bakterielle Infektion der oberen Atemwege (Husten) dazukam. Zudem plagen ihn eine Einblutung in die unteren Hautschichten am linken Oberschenkel (blauer Fleck nach Kontakt mit der Schreibtischkante) und eine chronische Entzündung in der Mundhöhle (Zahnfleischbluten nach Biss in einen grünen Apfel). »Von wegen ein bisschen blass; ich bin am Ende«, nuschelt der Nachbar.

      Das mag ja sein, seine weinerliche Art ist aber doch ziemlich neu. Zumindest, wenn er noch nicht einmal im Sattel sitzt. Also bohre ich ein bisschen nach, bis er endlich mit dem Grund seiner Leiden rüberkommt. Brägel hat ein Buch der »Arbeitsgemeinschaft Radsportärzte in Deutschland« (ARD) gelesen. Der Titel: »Jan Ullrich – in 100 Tagen vom Totenlager zum Toursieg«. Das hat ihn schwer beeindruckt und mit zwei Erkenntnissen zurückgelassen. Erstens: Jeder sportive Mensch ist im Prinzip


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