Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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einmal im Jahr ernsthaft in die Pedale tritt. Für ihn heißt das: Alle Konzentration gilt dem 18. Juli 1999, einem Sonntag. Da findet die RTF »Rund um Kleckersdorf« statt, und Brägel hat für die mittlere Strecke gemeldet. 90 Kilometer mit zwei Hügeln.

      So ein Schmarrn. Der Kerl weiß genau, dass wir jedes Jahr Kleckersdorf fahren, manchmal sogar die 135 Kilometer. Und er weiß auch, dass wir uns an diesem Tag, wie jedes Jahr, nachmittags auf meiner Terrasse zur Übertragung der Touretappe treffen werden. Den Hinweis kontert er freilich gnadenlos. »Du willst ja auch nur mitfahren. Ich will alles, ich will den Sieg.«

      Und deswegen ist er jetzt sterbenskrank. Weil ja auch der Ullrich immer erst zu dick und dann zu schwächlich daherkommt, kopiert Brägel gnadenlos das südbadische Erfolgsmodell, was ihm beim Gewicht sowieso nicht schwerfällt. Und den ganzen Krankenzirkus macht er nur, um mich an einem lächerlichen Fünfprozenter abzuhängen; was ihm im übrigen nicht gelingen wird. Ganz sicher nicht.

      Der Wahnsinnige konsultiert jetzt einen Sportmediziner, einen Ernährungsberater, einen Physiotherapeuten, einen Akupunkteur, vier Geistheiler, eine spiritistische »Gnade« und einen Guru aus der Schweiz, der gut gegen Blähungen sein soll und 500 Mark pro Sitzung kassiert. Dienstag abends geht er zudem in ein Rebirthing-Seminar. Brägel glaubt ganz fest daran, dass er die Wiedergeburt von Fausto Coppi sei. Das ist natürlich völliger Blödsinn, weil der Nachbar schon gelebt hat, als Coppi noch gar nicht tot war. Außerdem ist der Italiener nie von Lasagne krank geworden. Capito? »Dann war ich eben Eddy Merckx«, grollt er. Himmel, hilf; am Ende einigen wir uns darauf, dass er früher vielleicht einmal als Josef Fischer unterwegs war. Nein, nicht unser Außenminister. Fischer hat 1896 die erste Auflage von Paris–Roubaix gewonnen und müsste damit 1999 eigentlich für eine Wiedergeburt zur Verfügung stehen. Aber auch das ist unwahrscheinlich, schließlich haben die Jungs damals nicht so geschwächelt.

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      Brägel hat jetzt erst einmal alle RTF-Termine bis Mitte Juni abgesagt. Er will mit seiner Entourage im warmen Süden trainieren und sich zum ersten Mal Mitte Juni über 60 Kilometer bei einer 200-Kilometer-Touristikfahrt in der Emilia Romagna ausbelasten. »Bei der ersten Verpflegung gehe ich aber raus«, sagt er. Wenn das der alte Fischer hören könnte.

      Auch das Training hat er radikal umgestellt. Brägel radelt mit vorgeschnalltem Pollenfilter und trinkt vorher zwei Liter Blutreinigungstee. Auch das ist von Ullrich im übrigen nicht bekannt, ebensowenig wie der tägliche Einlauf mit Bachblütenextrakt. Für die Zeit nach dem 18. Juli hat Brägel eine Serie kleinerer RTFs (so um die 40 Kilometer) eingeplant. »Und einige Pressetermine«, erklärt er. Sollen wir ihm wirklich sagen, dass die örtliche Zeitung seit Wochen stöhnend seine Faxe in den Papierkorb wirft? Besser nicht, er ist schon bleich genug. Außerdem wird ihn die Erkenntnis hart treffen, dass es bei der Kleckersdorfer RTF gar keine Zeitmessung gibt. Zumindest nicht bei der mittleren Runde.

      Aber, wie gesagt, er hat sowieso keine Chance, auch gesund nicht. Doch dass er im Moment so blass ist, macht einem schon Sorgen. So sieht Jan Ullrich nicht mal im Dezember nach einer Woche Vollgas-Fete aus. Vor einigen Jahren gab es ja einmal einen Dopingverdacht gegen Brägel. Er soll mit Eigenurin experimentiert haben. Es ist zwar (leider) nicht bewiesen worden, aber eines ist auch klar: Nie wieder ein Schluck aus seinem Bidon. Am Ende wird man davon noch krank.

      PRIMAT DER TECHNIK

      RADFAHREN IST EINE GESUNDE, SPORTLICHE BETÄTIGUNG AUF EINEM GERÄT, DAS PERFEKT AUF DIE BEDÜRFNISSE DES MENSCHEN ABGESTIMMT IST. ODER?

       1994 bis 2001

      Früher hockte der Mensch auf Bäumen, die Knie irgendwo bei den Ohren, zupfte ein paar Blätter und war eigentlich ganz zufrieden. Wenn er mal in die Welt hinein wollte, sauste er auf allen vieren durchs hohe Gras, schrie gelegentlich »Ugah, ugah«, damit nicht aus Versehen ein Mammut auf ihn drauftrampelte, und ließ es sich gut gehen. Das waren halt noch so richtig schöne Zeiten. Das Leben kam heiter daher und beschwingt.

      Jetzt haben wir den aufrechten Gang und einen rechten Stress. Was hat uns denn die Evolution gebracht? Richtig – viel Arbeit, viel Ärger, und hätte nicht irgendein genialer und aufrechter Mensch die Braukunst erfunden, dann gäb’s noch nicht einmal ein Weizenbier.

      Man kann nun aber leider nicht jeden Abend gläserweise Weißbier in sich reinschütten. Erstens leidet die Form, zweitens schmeckt’s im Winter nicht so recht und drittens jault die Gattin, weil immer die Zitronen aus sind. Dem Himmel sei Dank, gibt es aber noch das gute Radel und neuerdings eine Entwicklung, die am Zahn der Zeit ein paar Millionen Jährchen abschleift. Der Velo-Mensch hat allerlei aerodynamische Hilfen am Lenker entdeckt, die ihn zurück in die heitere Vergangenheit zwingen. Jetzt duckt sich der Homo Strampelcus aufs Gerät, krümmt sich zusammen wie ein Wurm, beugt wie einst der Primat das Kreuz dem Boden zu. Und wo sich der Mensch wieder zum Halbaffen entwickelt, ist einer natürlich nicht weit – genau, Kamerad Brägel.

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      Der kam neulich mit einer abenteuerlichen Konstruktion daher. Nach einer Fernsehübertragung vom Stundenweltrekord in Manchester war er in den Keller geflitzt, hatte den Wäscheständer seiner Freundin auseinandergeschraubt, aus den Einzelteilen ein Rechteck aus vier Rohren gebastelt und das Ganze mit Schraubschellen an seinen Lenker geklemmt. Danach sah das arme Velo aus wie eine Fernsehantenne auf Rädern, und wenn Brägel nach den Griffen (mindestens einen Meter vor dem Vorbau) fingerte, berührte sein Hintern gerade noch so die Sattelspitze. Kurzum – wieder einmal ein Bild des Jammers. »Genau wie Boardman«, jubelte der Lapp dagegen, als er mühsam die Straße runtereierte. Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Der Brite hat sich bei seinem Stundenweltrekord flach gemacht wie ein Bierdeckel, Brägel dagegen klemmte wie ein aufgeklappter Zollstock auf seiner peinlichen Konstruktion. An jenem Tag waren das übrigens seine letzten Worte. Die Aluröhrchen gaben unter seinen 95 Kilo nach, er stieg kopfüber ab und musste sich auch noch vor seinem Hausbesitzer in Sicherheit bringen. Der war nämlich kurz zuvor fassungslos vor seinem durchgeschnittenen Gartenschlauch gestanden. Brägel hatte noch irgendetwas als Griff gebraucht …

      Es dauerte fast vier Tage, um die Szenerie wieder zu beruhigen. Schließlich packte Brägels Freundin ihren Koffer wieder aus, der Vermieter nahm die Kündigung wegen Vandalismus zurück, Brägel wurde im Krankenhaus an der Stirn genäht und bekam 14 Tage Sportverbot.

      Das Problem aber bleibt – Aerolenker, das muss jetzt einfach sein. Damit ist der Mann nun allerdings nicht allein auf der Welt. Wer was auf sich gibt, macht sich krumm. Angefangen hat das Ganze seinerzeit mit einem Ami namens Greg LeMond, der sich bei der letzten Etappe der Tour de France 1989 einen, damals nur Triathleten bekannten, Lenkerbügel ans Rad schraubte und im abschließenden Zeitfahren Laurent Fignon noch aus dem Gelben Trikot fuhr – um acht Sekunden nach 4.000 Kilometern. Das hat schon Eindruck gemacht auf die Szene. Und heute gibt es nun Sachen, die gibt es eigenlich gar nicht. Aberwitzig verbogene Rohre, mit Polster und ohne, Griffe mit Gummi oder mit Kork, Hörnchen und Sticks und weiß der Teufel, was noch.

      Das Resultat dieser Art von Aufrüstung bleibt aber in jedem Fall das gleiche. Der Mensch bringt sich in eine Position, die ungefähr so bequem ist wie Unkraut jäten im Stehen.

      Und weil bei vielen die Lendenwirbelsäule auch schon ein bisschen steif geworden ist, wird der Bügel eben solange nach oben gebogen, bis es wieder bequemer wird. Da sitzt nun unser Aeroradler, fast wieder aufrecht, aber mit zusammengedrückter Lunge, weil er den engen Bügel nicht loslassen will.

      Genaugenommen können die ganzen Dinger ja nur von Orthopäden erfunden worden sein, die sich Gedanken um die Patienten von morgen gemacht haben. Der letzte Lenkerschrei bestätigt das. Die spartanischen Griffe vorn zwischen den Bremsen sollen ja schon Jan Ullrich über die Pyrenäen geholfen haben. Mittelgriff und dann rein ins Pedal. Man nennt das übrigens »Spinaci« (zu deutsch: Spinat), was bedeutet, dass man davon so dicke Arme wie weiland Popeye bekommt. Allerdings nicht wegen der Muskeln, sondern weil die Unterarme ungeschützt auf dem harten Lenkerrohr abgestützt werden müssen.

      Nein,


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