Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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Zeit völlig in Ruhe und entfaltet seine zerstörerische Kraft nur bei körperlicher Beanspruchung, wobei durchzechte Nächte bei Weihnachtsfeiern nicht dazu gehören. Gut macht sich auch die Aussage, dass Nebenwirkungen der Medikamente, die er wegen seiner rätselhaften Infektion ständig einnehmen müsse, wichtige Stoffwechselvorgänge negativ beeinflussen und ein Verkleben der roten Muskelfasern zur Folge haben würden. Wahlweise zu diesem Szenario philosophiert Brägel nach peinlichen Auftritten am Berg über eine orthopädische Schwäche im rechten Kniegelenk. Dabei wirft er mit Ausdrücken wie Meniskus-Läsion, chronisch entzündeter Kapsel und ähnlichem um sich, kann aber mit dem final geschädigten Gelenk problemlos vier Stunden suupi Ski fahren. Wir raten ihm zu einer Operation, Brägel lehnt ab, weil »jede Narkose dein Leben um ein Jahr verkürzt«, wie er sagt. Angesehen davon, dass ein Jährchen angesichts seiner anstehenden Wiedergeburt locker zu verschmerzen sein dürfte, hat er dieses Wissen um die Narkosefolgen exclusiv.

      Gern rharbarbert Brägel auch über Statikprobleme an und auf seinem Velo. Neulich hat er sich dabei selbst übertroffen. Der Lapp hat zu Geburtstag von seiner Viola suupi-neue Radsocken geschenkt bekommen, mit einer etwas dickeren Sohle, weil ja der Winter vor der Tür steht. Diese Socken waren dann für einen Schwächeanfall verantwortlich, den er damit erklärte, dass sich durch die dicke Sohle seine Sitzposition verändert habe. Er sei plötzlich vier Millimeter zu hoch gesessen und hätte deshalb seine urwüchsige Kraft nicht optimal aufs Pedal übertagen können. Himmel, hilf. Einer hat diese Geschichte tatsächlich geglaubt und die Sohlendicke seiner Socken vermessen. Kein Witz.

      Vor jeder Ausfahrt unternimmt Brägel zudem exakte Vermessungen an seinem Rad. Zwischen Sattelspitze und Vorbau müssten eineinhalb Armeslängen Luft sein; wobei er meistens so draufsitzt, als habe er die Armlänge eines Orang Utan zum Maß genommen, und zwar zweieinhalbmal. Auch Messfehler zwischen Sattelunterseite und Tretlagermittelpunkt müssen oft als Grund herhalten. Peinlich war aber die Ausrede mit dem Sattelstand. Da die Sattelspitze sechs Grad zu steil nach oben ging, habe es ihm wegen verstärkten Hodendrucks die Blutversorgung im Oberschenkel abgestellt, jaulte er neulich.

      Unerreicht sind Brägels psychologische Ausreden: Natürlich sei die Weltlage alles andere als suupi und wirke leistungsmindernd aufs Gemüt; vor allem durch die Baisse an den Finanzmärkten, Sabine Christiansens Trennung von ihrem Mann oder den Film »Drei Schwedinnen auf Ibiza« in RTL2. Warum gerade der? »Weil er erst um 02:45 Uhr anfing«, sagt Brägel, »war zwar suupi, aber jetzt bin ich müde.« Ganz neu ist die Eingebung, dass er sich in diesem Leben nicht so plagen soll, weil ihm die Wiedergeburt als Skilehrer in St. Moritz avisiert wurde. »Und da braucht man volle Power«, sagt Brägel.

      Suupi. Wir nicken voller Verständnis und fragen ihn, ob er bei unserer 50-Kilometer-Weihnachtstour am 6. Dezember mitfahren will. »Natürlich bin ich dabei«, behauptet es, »im Moment bin ich suupi in Form«. Das wird sich ändern bis zum Start, das ist sicher. Wahrscheinlich waren dann die Zimtsterne schlecht, wenn es ihn wieder aus der Gruppe raushaut. Oder die Vorfreude auf das Nikolausfest mit seinem Junior ist schuld, oder das traurige Leben von Dieter Bohlen – warum auch immer. Wir werden’s erfahren. Subito.

      CARBONRENTNER

      DER GENERATIONENKONFLIKT MACHT BRÄGEL ZU SCHAFFEN. ALSO ERFINDET ER DEN KNIGGE FÜR RENNRADFAHRER

       2005

      Es ist nur ein kleiner Anstieg. Wir fahren locker dahin, als von hinten eine Gruppe anrollt. »Keinen Stress jetzt«, keucht Brägel, »lassen wir sie einfach vorbei.« Auch der alte Hans nickt eifrig. Na gut. Es ginge zwar noch was, aber es muss ja nicht jedes Mal Rennen sein. Die anderen fahren vorbei, wir grüßen freundlich. Keine Antwort. Der alte Hans hebt mangels Luft die Hand. Keine Reaktion. »SERVUS«, kräht Brägel, als sie fast schon vorbei sind, aber die anderen bleiben stumm, schauen hinter ihren verspiegelten Brillen starr nach vorn, nach links oder durch uns durch. Lauter junge, schlanke Kerle. Einer rotzt (nach rechts), die anderen schweigen. Als der letzte vorbei ist, hören wir deutlich: »Viel Kohle, kein Tritt – typisch Carbonrentner.« Die anderen Schnösel lachen. »Los, die blasen wir aus den Schuhen«, ächzt Brägel. Ich mache ihm klar, dass er fast am Limit ist, die da vorn aber höchstens im Standby rollen, dass die Lackel fast unsere Söhne sein könnten und die beste Reaktion unsererseits jetzt gar keine ist. Brägel fügt sich schnaubend, der Präsident murmelt ein gequältes »Pedalpack, mistiges«, wir rollen schweigend weiter und hängen dunklen Gedanken nach.

      Zwei Stunden später im Clubhaus die Aufarbeitung. Wir fragen uns, ob wir selbst früher auch derart respektlos gegenüber älteren Sportkumpeln waren. Der alte Hans verneint, wobei nicht sicher ist, ob es überhaupt schon ältere Rennradler gab, als Hans jung war. Damals waren gestandene Männer schließlich mit dem Wiederaufbau, dem Wirtschaftswunder und der Produktion geburtenstarker Jahrgänge beschäftigt. Brägel meint, dass er als Jugendlicher im Fußballverein den Kickern der AH immer die Sporttaschen getragen hat, was wir nicht so recht glauben wollen. Wahrscheinlich hat er da Biermarken fürs Sommerfest bekommen. Es besteht also der begründete Verdacht, dass wir auch nicht anders waren und den Respekt vor Älteren erst entwickelt haben, seit wir selbst morgens nur noch mit Dehnübungen für Kreuz und Knie in die Senkrechte kommen, also so ungefähr ab Mitte 30.

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      Fest steht aber, dass im Land der Anstand leidet, quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Politiker werden als Absahner enttarnt, im Aufzug grüßt keiner mehr, und jetzt lassen sich sogar schon leibhaftige Schiedsrichter von schmierigen Halbwelt-Strizzis bestechen. Dabei galten die Unparteiischen zusammen mit Ordensschwestern als letzte moralische Instanzen in schwerer Zeit. Armes Deutschland. Aber da wir vom Radclub immer schon an das Gute glauben, gehen wir begeistert auf Brägels Idee ein, eine Art Knigge für Rennradfahrer auszuarbeiten.

      Nach zwei Hefe hell stehen die Rahmenbedingungen für einen anständigen Freizeitsport. Es ist ab sofort strikt verboten, sich von hinten unbemerkt fremden Radlern zu nähern, sich anschließend schamlos im Windschatten zu erholen, nur um dann an einem passenden Berg mit 350 Watt anzutreten. Das ist nicht nett. Künftig begrüßen wir Fremde mit einem freundlichen Hallo und lassen sie auch in den Genuss unseres Windschattens kommen. »Haben wir doch noch nie gemacht«, flüstert der alte Hans. Ich nicke, aber Brägel denkt schon weiter. Die Handzeichen, die auf Löcher in der Straße oder sonstige Hindernisse aufmerksam machen, müssen wieder mehr zum Einsatz kommen, wer sich die Nase ausblasen will, lässt sich an das Ende der Gruppe zurückfallen, und gepinkelt wird in Zukunft nur außerhalb geschlossener Ortschaften und mit dem Rücken zur Straße. Hupende Autofahrer werden künftig nicht mehr mit dem Einsatz körperlicher Gewalt und unanständigen Worten bedroht. Ich erinnere mich noch gut, wie Brägel vor zwei Wochen einem hupenden Autofahrer nachhetzte und ihm beim nächsten Halt mit seiner Trinkflasche ins Auto gespritzt hat. Danach hat er ihn mit einer Salve von Wörtern belegt, von denen ein paar Kinder am Straßenrand rote Ohren bekamen. Das Ganze endete mit einer eindeutigen Morddrohung für den Fall, dass sich der Automobilist nicht sofort verpissen, Verzeihung: verkrümeln würde.

      Und jetzt will Brägel zum Benimm-Radler werden. »Wir müssen Vorbilder sein«, sagt er. Es soll auch Schluss damit sein, dass wir uns über andere Radfahrer lustig machen und über ihre Velos oder Trikots herziehen. »Sollen wir sie auch noch ein bisschen küssen?«, ätzt der alte Hans, dem es langsam zu viel wird. Ich denke auch, dass es jetzt reicht. Ausgerechnet Brägel, der mich erst kürzlich hämisch gefragt hat, wann ich mein sieben Jahre altes Cinelli ins Museum für historische Technik bringen wolle. Danach hat er dreckig gelacht und voller Stolz seinen neuen Carbonrenner (7,153 Kilo, das Gramm zu je einem Euro) am Stammtisch präsentiert (er hat tatsächlich das Rad in der Kneipe um den Tisch geschoben).

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      Ich will Brägel gerade ein bisschen einbremsen und die dritte Runde Hefe hell bestellen, als die Jungradler das Vereinsheim betreten. Sie setzen sich grußlos und bestellen Apfelschorle und Latte Macchiato. Der Präsident erhebt sich schwer (84 Kilometer, zwei Hefe hell) und sendet eine Botschaft an den Nachbartisch: »Hört mal, demnächst sagt ihr Hallo, wenn ihr an uns vorbeifahrt. Das gehört sich


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