Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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zu harken oder Jan-Miguels Rad zu reparieren. Neulich habe er sich mit Hinweis auf Rückenschmerzen geweigert, den Römertopf aus dem oberen Küchenregal zu holen. Da habe Viola zu ihm gesagt: »Der Armstrong fährt klaglos die Tour und du liegst hier rum. Und das mit dem Topf, das schafft ja selbst Jopi Heesters locker.« Der alte Hans fragt, in welchem Team Heesters fahre, aber keiner hört zu. Ist schon wahr: Das Verlängern der Jugend bis Mitte 60 führt zu so manchem Problem. Während Menschen Anfang 50 früher in der Straßenbahn noch ein Sitzplatz angeboten wurde, musst du heute in diesem Alter Trondheim–Oslo unter 22 Stunden fahren, sonst hängen dich die 70-Jährigen ab. Bei der wöchentlichen Wampenschau in der Sauna muss man zweieinhalb Stunden die Luft anhalten – in einem Alter, über das man früher gesagt hätte: Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel. »Und das Schlimmste ist«, sagt der Präsident, »meine Frau will, dass ich mir die Haare färbe.« Das sei ja das Wenigste, knarzt der alte Hans: »Sieht ja eh keiner.« Für den Gag gibt’s ein Hefe hell von Brägel.

      Das Problem aber bleibt – wollen wir wirklich noch zulegen, obwohl unser Haltbarkeitsdatum langsam abläuft, oder darf’s dann auch mal etwas ruhiger sein? Brägel schlägt vor, künftig samstags in drei Leistungsgruppen zu fahren. Die sollen »Speed«, »Medium« und »Easy riding« heißen; das ist wohl Brägels Fortbildung neulich geschuldet, bei der selbst klare deutsche Worte durch englische ersetzt wurden, weil’s besser soundet. Am Samstag scharen sich aber fast alle bei »Speed«. Bei »Medium« steht gar keiner, und bei »Easy riding« nur der Präsident, der sagt, er möge kein blutiges Fleisch. Wir winken ihn zu uns und fahren los. Der Versuch ging völlig schief, gefahren wurde wie immer: link. Also so lange wie möglich an einem guten Hinterrad. Natürlich auch mit hinterhältigen Attacken und Treten bis zur Kotzgrenze am letzten Berg. Hinterher waren sich alle einig, dass man ja auch nicht freiwillig in eine schwache Gruppe gehen könne. »Wie sieht denn das aus«, sagt der alte Hans. »Genau das ist das Problem«, antwortet Brägel, »wenn nicht mal unser altes Wrack ruhiger fahren will, geht natürlich auch kein anderer hin.« Nach etwa zehnminütigem Tumult ist klar, dass wir noch lange nicht bereit sind, im Sattel unser Alter zu akzeptieren. Lieber tot als Zweiter – das gilt ewig.

      Wenn das also nicht geht, müssen wir uns zumindest länger erholen, um annähernd altersgerecht Radsport zu treiben. Wir beschließen daher, die Trainingsrunden effektiv um fünf Kilometer durch eine Abkürzung zu kürzen, für die Berechnung des Schnitts belassen wir es aber bei der alten Streckenlänge. Dadurch erreichen wir den angestrebten Durchschnitt mit weniger Anstrengung. »Aber das ist doch Betrug«, mosert der Präsident. »Möglich«, sagt Brägel, »aber es macht ein gutes Gefühl und überhaupt – was ist im Radsport schon sauber.« Da hat er auch wieder Recht. Wenn man bedenkt, wie granatenmäßig normalerweise bei den Jahreskilometern gelogen wird, ist das Schnitt-Tuning fast zu vernachlässigen. Zur weiteren altersgerechten Schonung beschließen wir außerdem noch, das dritte Kettenblatt zuzulassen. Die montägliche Gymnastik wird dafür in einen weiteren Stammtisch umgewandelt.

      Damit sollten wir die nächsten zehn Jahre hinkommen. Kommenden Samstag wird wieder gefahren, bis die Herzklappe wummert. Der alte Hans ist schon heiß darauf, seine persönliche Antwort auf das »alte Wrack« zu geben.

      MACKER IM ACKER

      SINNLOSES SPIELZEUG FÜR GROSSE JUNGS – DAVOR IST AUCH BRÄGEL NICHT GEFEIT …

       2008 bis 2012

      Radfahrer sind meistens auch Autofahrer, was umgekehrt nicht unbedingt gilt. Trotzdem fragen wir uns im Radclub manchmal, was für ein Auto eigentlich zu einem engagierten Radler passt? Brägel hat diese Frage für sich schon vor Jahren beantwortet und fährt seither zitronengelbe Zweisitzer. Daran hält er auch als Familienvater fest, gönnt Viola und den Kindern aber einen 16 Jahre alten VW Golf. Zur Ehrenrettung muss man anmerken, dass er für Urlaubsfahrten eine verkehrssichere Großraumlimousine mietet.

      Wir haben uns daher gewundert, als er neulich mit einer Art zivilem Panzer zum Stammtisch kam: 295er-Reifen, 300 PS, Phallus-Auspuff, Edelstahl-Trittbretter, verspiegelte Scheiben. »Das ist ein SUV«, sagt er. »Wer isst zu viel«? fragt der alte Hans, aber keiner hört zu. Brägel erklärt, dass die Karre ideal für Radfahrer sei, weil man hinten zwei Renner einladen könne und nur die Vorderräder rausnehmen müsse.

      Wir erklären ihm, dass dies auch mit einem normalen Van gehe und es dazu keinen tonnenschweren Koloss braucht, der bisher nur als Statussymbol für magersüchtige Anwaltsgattinen aufgefallen ist. Die belegen am Supermarkt zwei Stellplätze, weil sie den Brummer nicht einparken können. Dann verstauen sie im Gepäckraum 200 Gramm handmassiertes Filet vom Kobe-Rind, eine Schale Sushi für den Hund und das neueste Heft von »Schöner thronen«. Und dann sind sie froh, wenn sie die kleine Tüte im Stauraum wiederfinden.

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      »Quatsch«, sagt Brägel, »ich kann mit dem Auto auch ins Gelände.« Okay, Deutschlands Straßen haben im Winter gelitten, aber für die paar Schlaglöcher braucht es keinen Allrad mit Niveauregulierung. Und Brägel verdient sein Geld weder als Förster noch als Bergwerks-Ingenieur. Wir vermuten chronische Erektionsprobleme, sagen aber nichts, um die nächste Runde Hefe hell nicht zu gefährden. »Außerdem sitzt man höher und sieht besser«, nölt Brägel. »Wie wär’s«, kontert der Präsident, »wenn du ein Kissen für dein Cabrio kaufst?« Brägel winkt ab.

      Beim Treff zur nächsten Trainingsrunde erscheint Brägel mit seinem Panzer, der aussieht, als hätte er ihn in einem Schweinekoben gewendet. »Ich bin einen kleinen Umweg durch den Wald gefahren«, erklärt er. Als wir zum Parkplatz zurückkommen, steckt ein Zettel hinter dem Scheibenwischer, dass er sich bei der Polizei melden soll. Machen wir’s kurz: Fahren auf gesperrten Wegen plus Gefährdung von Spaziergängern macht 150 Euro und zwei Punkte. Dazu hat einer der Ledersitze im Heck zwei kleine Löcher, weil sein Rad hin und her geworfen wurde.

      Wir vermuten, es war das Kettenblatt. Eine Woche später fehlt an der Karre der rechte Außenspiegel, den Viola im Parkhaus an einer Säule abgestreift hat. Kosten für den neuen nebst Stellmotor: 529 Euro. Außerdem riecht es innen neuerdings ein wenig säuerlich, weil Familienhund Dertutnix kotzen musste, als Brägel durch ein Bachbett schepperte. Dafür haben sie ihm an der Tankstelle eine goldene Kundenkarte angeboten, weil er jetzt zweimal in der Woche 80 Liter Superplus zapft. »Und ich bekomme zwei Prozent Rabatt«, sagt er. Wow.

      Wir bleiben dabei, dass das ideale Auto für Radler ein Kombi oder ein Van ist, was Brägel aber nicht beeindruckt. »Im Sommer bei der Tour parke ich das Ding am Galibier an einer Stelle, an die niemand sonst hinkommt und man fünf Kilometer Rennen sieht«, sagt er strahlend. Okay, wenigstens das. Die Frage ist allerdings, wer im Juli die Karre nach Frankreich fahren soll. Seit zwei Tagen ist Brägel nämlich den Führerschein los. Der Lapp hat im Stau die Autobahn verlassen, einfach über die Leitplanke und durch einen Acker – und direkt in die Arme einer Streife. Wie lange das Fahrverbot gilt, weiß er noch nicht. Aber wir machen uns ernsthafte Sorgen wegen Brägels Form. Nachdem er jetzt jeden Meter mit dem Rad fahren muss, befürchten wir beängstigende Fortschritte.

      Und das will natürlich niemand.

      MORGENSTUND MIT HUND

      WER ES ZU ETWAS BRINGEN WILL, BRAUCHT EIN WENIG DISZIPLIN. ALSO VERSUCHT SICH DER RADCLUB AM MORGENDLICHEN TRAINING

       2014

      So ein Tag hat eben auch nur 24 Stunden – und das ist eine bittere Erkenntnis für alle, die ENDLICH mal ein bisschen mehr Radkilometer auf die Uhr bekommen wollen. Also auch für Brägel, der uns deshalb am Stammtisch euphorisch mit »Männer, der frühe Vogel fängt den Wurm« begrüßt. »Wer hängt im Turm?«, fragt der alte Hans, bekommt aber keine Antwort. Wir ahnen dagegen Schlimmes, was sich prompt bestätigt. Brägel will ab sofort zweimal pro Woche zusätzlich morgens zwischen halb sechs und sieben anderthalb Stunden in den Sattel. Selbst bei gemächlichem Tempo kämen so noch mal zwischen 250 und 300 Kilometer pro Monat zusammen.

      Ehrlich gesagt, ist die Idee menschenverachtend. Um 05:30 Uhr fängt


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