Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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Da er aber ohne uns einen gewaltigen Trainingsvorsprung herausradeln würde, müssen wir natürlich mit. Alles andere geht gar nicht. Und so trifft sich zwei Tage später ein Haufen elender Gestalten mitten in der Nacht vor dem Clubheim. Es nieselt ein wenig. Brägel hat an seinem Rad einen gefühlt 1.000 Watt starken Strahler montiert, der hektisch flackert wie ein Diskostroboskop. Seine Klamotten werden von weißen Leuchtstreifen durchzogen, die ihm das Aussehen eines geröntgten Zebras verleihen. Quer über das Kinn ziert Brägel zudem ein dickes Pflaster, weil er beim Rasieren noch nicht richtig wach war. Einige andere offenbar auch noch nicht. Der Präsident trägt das Trikot seiner Frau, das ihn in eine pinkfarbene Presswurst verwandelt, was man zum Glück aber nur in Brägels Strobo-Gewitter sieht. Der alte Hans steht still und schweigt. Im fahlen Licht einer Straßenlampe erkennt man aber, dass er heute eine ziemlich faltige Unterlippe zur Schau trägt. Wahrscheinlich liegen die Beißerchen noch im Glas. »Morgenstund hat Gold im Mund«, ruft Brägel. »Wo ist ein Hund?«, nuschelt der alte Hans. Tatsächlich – unten keine Zähne.

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      Pünktlich um 05:30 Uhr fahren wir los. Brägel mit seiner Lightshow vorneweg, der alte Hans am Ende, weil auch er ein leistungsstarkes Licht am Rad hat. Wir anderen mit unseren Billigfunzeln vom Baumarkt-Wühltisch in der Mitte. Die Straße ist leer, auf dem Weg aus der Stadt begegnet uns nur der Zeitungsausträger, der erst schaut, als hätte er ein UFO gesehen, und sich dann an die Stirn tippt. Kurz danach sind wir auf der kurzen Trainingsrunde. Nach fünf Kilometern haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt, es rollt eigentlich ganz anständig. Aber nur bis kurz nach sechs. Es ist zwar immer noch stockdunkel, aber plötzlich nähern sich uns aus der Wiese neben der Straße hüpfende Lichtpunkte, die von schrillen Pfiffen begleitet werden. »Achtung, Hunde!«, brüllt Brägel und bremst. Tatsächlich – kurz darauf stehen zwei freundlich wedelnde Fellbündel mit Blinkhalsband vor uns. Einer pinkelt Brägel ans Vorderrad, der andere versucht, den Präsident im Gesicht zu schlecken. Plötzlich taucht eine Frau auf, die aussieht, als hätte sie nie und nimmer um diese Zeit mit Sozialkontakt gerechnet. Gummistiefel, darüber einen Parka, unter dem etwas herausragt, das wie ein Nachthemd aussieht. »Ich muss ja morgens raus, aber ihr«, sagt sie, leint ihre kleinen Strolche an und trollt sich. Der Präsident will sie wegen der Hunde noch beleidigen, aber wir halten ihn zurück. Sie hat ja recht.

      Wir fahren weiter über so gut wie autofreie Straßen. Es rollt gut, und um 07:00 Uhr sind wir wieder am Clubheim. Es dämmert, wir haben 37 Kilometer mehr auf dem Zähler und fühlen uns tatsächlich sehr gut. »Das ist doch ein geiler Start in den Tag«, jubelt Brägel.

      Ein Thema auf Dauer ist es trotzdem nicht. Der Euphorie folgte nämlich das 15-Uhr-Loch, in das alle todmüde purzelten. Und die allermeisten am Arbeitsplatz. Brägel berichtete zudem von familiärem Ärger, weil er, aufgeputscht vom Sport, sich seiner Gattin in einer Art nähern wollte, für die Viola um kurz nach sieben null Verständnis zeigte.

      Und den zahnlosen alten Hans hält man auch nicht wirklich aus. Also – Morgentraining ja, aber höchstens einmal im Monat.

      ELEKTRO-SCHOCK

      DER RADCLUB IST GESPALTEN: SIND E-BIKER BETRÜGER ODER NICHT? ENTSCHEIDEN SIE SELBST

       2015

      Wenn sich das Jahr neigt, sind die Menschen meist in einer ziemlich gnädigen Stimmung. Das Jahr ist geschafft, irgendwie, allüberall leuchtet es weihnachtlich, der Urlaub rückt näher, und das Gemüt wird heiter. Das ist auch die Zeit, Bilanz zu ziehen und dabei selbst bei heiklen Fragen eine innere Gelassenheit zu bewahren. Meistens jedenfalls.

      Der Radclub hat sich jedenfalls zunächst in durchaus friedlicher Absicht zum traditionellen Adventsempfang getroffen. Es wurden gleich zu Beginn geistreiche Getränke in respektabler Menge gereicht, dann ergriff Brägel wie jedes Jahr das Wort und gab es quälende 35 Minuten nicht mehr her. In meiner Erinnerung begann seine Rede mit: »Liebe Freunde und Gönner des Radclubs, werte Sportskameraden und Radhändler, liebe Kinder und vierbeinige Hausgenossen und auch noch ein herzliches Grüß Gott an alle Frauen« und endete mit »rufe ich Ihnen zum Ende meiner kurzen Ausführungen – ich bin ja kein Redner, gell – ein entschiedenes Prost zu«. Was dazwischen war, habe ich vergessen, nur dass der alte Hans eingenickt und mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen ist, das weiß ich noch.

      Danach gab es die traditionelle Gans mit ganz viel Rotwein, ehe der Höhepunkt des Jahres anstand, also das feierliche Verkünden der Jahreskilometer. Und dann war Schluss mit lustig. Die Zahlen waren bei manchen absurd hoch, was daran lag, dass einige auch die Tacholeistung ihres E-Bikes dazu zählten – und das auch noch eins zu eins. Und da mittlerweile fast jeder ein E-Bike als Zweit- oder Drittrad zu Hause hat, kam da ganz schön was zusammen. »Betrug«, donnert der alte Hans, »ein E-Bike ist überhaupt kein richtiges Fahrrad, eher so was wie Viagra für wadendünne alte Schwächlinge.« Streng genommen, denke ich, also genau das Richtige für ihn, kann das aber nicht loswerden, weil der Präsident das Wort an sich reißt. Wortreich erklärt er uns, dass er sehr wohl die elektrischen Kilometer addiere, weil er sich auf seinem Mountain-E-Bike im Wald genauso anstrenge wie auf der Straße auf dem Renner. »Nur bin ich dann eben deutlich schneller als früher unterwegs, und das ist geil.«

      Danach wogte es ein wenig hin und her. Der alte Hans jaulte gequält, weil ihn einer »einen ewig gestrigen Mini-Macho« nannte. »Wieso Mini«, grantelte er immer wieder. Der Präsi bot sogar seinen Rücktritt an, sollte seine Kilometerzahl nicht offiziell anerkannt werden, zog dann aber zurück, weil ein Rücktritt aus ideologischen Gründen qua Satzung verboten ist. Nur Brägel hielt sich für seine Verhältnisse lange zurück. Schließlich erklärte er, dass er seine elektrischen Kilometer hälftig addiert habe, und ob das kein tragfähiger Kompromiss sei? Doch damit wollte auch keiner etwas anfangen, die Trennlinie ist klar – Männer gegen Memmen, Elektros gegen Realos, Bubis gegen Kerle und so weiter. Die weihnachtlich friedliche Stimmung drohte zu kippen, vereinzelt wurde sogar mit Anschlägen auf die Akkus respektive mit finalem Ventilklau gedroht.

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      Dann meldete sich Brägel doch noch mal. Sein Vorschlag: Für 2014 werden die elektrischen Kilometer gestrichen, und für 2015 wird eine verlässliche Regel aufgestellt. Die sieht ungefähr so aus, dass sich alle Clubmitglieder ein geeichtes und versiegeltes Gerät zur Leistungsdiagnose kaufen. Dieses Gerät muss dann jeder anlegen, sobald er E-Bike fährt. Wirft das Gerät hinterher eine Durchschnittsbelastung von mehr als 150 Watt aus, darf der E-Kilometer gerechnet werden. Sonst nicht. Mal abgesehen davon, dass keiner weiß, was so ein Gerät kostet – wer soll das Ganze auswerten? Dazu, so Brägel, werde unter seinem Vorsitz ein »Ethikrat für elektrisch sauberen Sport« gegründet, der dann auch Herr der Daten sei.

      So weit kommt’s noch – Brägel als Letztinstanz. »Das wäre ja so, als hätten wir eine Frau als Bundeskanzler«, schimpft der alte Hans. Wir erklären ihm, dass Frau Merkel tatsächlich eine Frau ist, lehnen aber auch Brägel als Zählmeister kategorisch ab.

      Danach war die Feier atmosphärisch ein wenig gestört. Wie es im neuen Jahr weitergeht mit den E-Kilometern, bleibt also noch ein wenig offen.

      NEIN! NEIN! … JA?

      BRÄGELS RADCLUB WEHRT DAS E-RENNRAD ALS SPORTGERÄT EISERN AB. NOCH.

       2019

      Die Situation hat sich angebahnt, aber das macht es nicht besser. Es ist ja schon lange klar, dass sich das E-Bike nicht mehr verhindern lässt, aber es gab immer ganz klare Grenzen. Der Radclub akzeptiert den Besitz von E-Bikes seiner Mitglieder, die das Rad mit Motor aber nur für Alltagsfahrten einsetzen dürfen. Die Fahrt zum Brötchenholen – alles gut. Mal mit der Family auf die Grillwiese gondeln – das ist ebenso erlaubt wie die Fahrt zum Job oder zu einem Besuch in der Innenstadt, wo man das Auto eh nicht parken kann. Diese Touren fallen nicht unter den Begriff »Sport«oder gar »Männersport« und sind deshalb mit Motor zulässig. Alles andere ist streng verboten.

      Brägel


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