Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


Скачать книгу
erklärt, dass er künftig in der Stadt komplett auf sein Auto verzichten will. Beruflich wie auch privat.

      Brägel streitet natürlich alles ab. Ja, er fahre jetzt mehr Rad in der City, aber natürlich streng nach den Regeln. »Und was sagen die Regeln zum Radfahren in Fußgängerzonen?«, fragt der Präsident. »In diesen Zonen sind Fußgänger ausdrücklich geduldet«, sagt Brägel, »Radler müssen sich aber akustisch bemerkbar machen.« Auweia – wir erklären ihm, dass seine Interpretation von der Wahrheit so weit entfernt ist wie er von guter Form. Fußgängerzonen und Gehwege sind für Radfahrer tabu, es sei denn, unter den Markierungsschildern hängt noch ein kleines, weißes Zusatzschild mit einem schwarzen Fahrrad und dem Wort »frei«. Dann dürfte er das Rad benutzen, aber nur im Schritttempo. Außerdem seien Rennräder für die Stadt nun wirklich nicht besonders gut geeignet. »Warum nicht?«, fragt Brägel. »Klickpedale, keine Schutzbleche, kein Ständer«, sagt der Präsi, »um nur das Wichtigste zu nennen.« Wenn er in der Stadt fahren wolle, solle er sich ein passendes Rad kaufen.

image

      Will Brägel aber nicht. Man müsse ja auch ans Tempo denken, und er habe keine Lust, sich auf den Radwegen in der Stadt von E-Bikern abhängen zu lassen. Also geben wir ihm noch ein bisschen Nachhilfe. Wir erklären ihm, dass er auf gemeinsamen Fuß- und Radwegen Rücksicht auf die Fußgänger zu nehmen hat, dass Tempolimits auch für Radler gelten und dass man Autofahrer nicht mit der Trinkflasche bespritzen darf, nur weil man meint, der seitliche Abstand sei zu gering. »Und was machst du bei einer roten Ampel?«, fragt der alte Hans. »Tempo rausnehmen, schauen ob frei ist und dann durch«, antwortet Brägel, ganz erstaunt, dass Rotlicht auch für Radler keine Empfehlung, sondern ein Befehl zum Anhalten ist. Doch er gelobt, sich künftig an die Regeln zu halten. Seine letzte Frage, ob er nicht wenigstens lästige Mitradler »abdrängen« dürfe, lässt aber Schlimmes ahnen.

      Zum nächsten Stammtisch kommt Brägel mit bandagiertem Knie und veritabler Beule. Das Knie hat er sich aufgeschlagen, als er auf einem Gehweg mit »Radfahrer frei« tatsächlich im Schritttempo fuhr – und schneller umfiel, als er aus dem Klickpedal rauskam. Die Beule indes ist gemein. Brägel erzählt, dass er an einer Ampel bei Rot angehalten habe und von hinten von anderen Radlern über den Haufen gemäht wurde. »Und die haben mich noch angeranzt, warum um alles in der Welt ich angehalten hätte.« Okay, wir kommen langsam zu der Erkenntnis, dass für uns brave Rennradfahrer die Stadt nichts als ein gefährlicher Dschungel ist. Auch Brägel hat resigniert, will es aber künftig Downtown mit einem E-Scooter versuchen. »Mit dem darf ich ja auch auf den Gehweg«, sagt er. »Leider nein«, erklärt der Präsident.

      Keine Ahnung, was Brägel nun vorhat. Eins interessiert uns aber noch. »Der unverschämte, mittelalte Rad-Rambo mit Bauchansatz und gelbem Balisto-Trikot aus der Zeitung, das warst doch du?«, fragt der Präsi. Brägel schweigt etwas zu lange und sagt dann: »Ich hab’ kein Balisto-Trikot.« Wir wussten es.

      RAUSCHMITTEL

      DIE PROMILLEGRENZE FÜR RADFAHRER MACHT BRÄGELS RADCLUB ZU SCHAFFEN. ZUMINDEST THEORETISCH

       2019

      Brägel gehört zu den Menschen, die gern Statistiken lesen. Warum auch immer. Neulich überraschte er uns am Stammtisch mit Zahlen aus dem Jahr 2013, die die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie verbreitet hat. Ebenfalls warum auch immer. Demnach verunglückten 2013 insgesamt 71.420 Fahrradfahrer im Straßenverkehr. 3.432 von ihnen standen dabei unter Alkoholeinfluss. »Und was soll uns das sagen?«, fragt der Präsident zwischen zwei deftigen Schlucken Hefe hell. »Ganz einfach«, erklärt Brägel, »wer Rad fährt, sollte nicht trinken, und wer trinkt, sollte nicht Rad fahren.« Na, bravo. Mal abgesehen davon, dass man nur der Statistik glauben sollte, die man selbst gefälscht hat, würde das ja sozusagen die Grundfesten unseres ehrbaren Vereins sprengen. Gut, jetzt im Winter trinkt tatsächlich manchmal einer nach dem Training einen heißen Tee. Aber nur als Aperitif. Im Normalfall verlässt kaum einer den Stammtisch nach dem Training unter zwei Hefe hell – und fährt danach natürlich auch mit dem Rad nach Hause. Wie auch sonst.

      »Das sollten wir künftig aber sein lassen«, sagt Brägel und regt an, dass wir einen Radanhänger kaufen, jeder sich eine Anhängerkupplung ans Auto baut und wir künftig reihum immer einen bestimmen, der nach dem Trainings-Stammtisch alle anderen samt ihrer Velos nach Hause kutschiert. »Und der darf dann gar nichts trinken?«, fragt der alte Hans. »Doch, aber deutlich weniger«, sagt Brägel, der dann noch erklärt, dass beim Autofahren die Grenze bei 0,5 Promille liege, Radfahrer aber erst ab 1,6 Promille gesetzlich fahruntauglich seien. 1,6 Atü Leitungsdruck – alle Wetter. Sensible Naturen würden das eine oder andere altgediente Mitglied der Trainingsgruppe zwar durchaus als rollenden Trinker würdigen, 1,6 Promille sind aber schon eine gewaltige Ansage. Brägel zitiert aus einer medizinischen Zeitschrift, wonach für diesen Wert bei einem 80 Kilo schweren Mann rund 100 Gramm Alkohol nötig seien, also vier Hefe hell. »Und die hat ja nun hier wirklich keiner nach dem Training«, sagt Brägel und erntet dafür emsiges Kopfnicken. Nur der Präsi schaut etwas verschämt und dreht lieber mal den Bierdeckel mit den Zählstrichen um.

image

      Überhaupt sollte man die Kirche um Dorf lassen. Wir hatten in den vergangenen zehn Jahren nur zwei Unfälle, wobei einer tatsächlich mit Alkohol zu tun hatte. Ausgerechnet Brägel hat sich einst in eine frisch ausgehobene Baugrube geschmissen, angeblich, weil die nicht beleuchtet war, was aber nicht stimmte.

      »Wie fühlt man sich eigentlich mit 1,6 Promille?«, fragt der alte Hans. Brägel zitiert wieder einschlägige Fachliteratur. Demnach nennt man den Bereich zwischen einem und zwei Promille das »Rauschstadium«. Dann zählt er noch ein paar Symptome auf, wie verschlechterte Sehfähigkeit, gesteigerte Enthemmung, Verlust der Kritikfähigkeit, Verwirrtheit, Sprach- und Orientierungsstörungen. »Okay«, sagt der Präsi zu Brägel, »aber wenn das so ist, dann haust du dir ja schon vor dem Training 100 Gramm Alk hinter die Binde.« Brägel wirkt ein wenig indigniert, aber wir erklären ihm, dass er grundsätzlich jedes Hinweisschild auf der Runde übersieht, dass ein einziger hupender Autofahrer ihn komplett enthemmt, dass er seit jeher die Kritikfähigkeit eines Stahlträgers habe und dass er, zumindest gefühlt, in einem Zustand ständiger Verwirrtheit durchs Leben gehe.

      Danach entbrennt eine lebhafte Diskussion, ob Brägel sozusagen ganz ohne Alkohol im Dauerrausch unterwegs ist, ob er heimlich trinkt, oder ob wir einfach nur gemein sind. Der Disput ist heftig und macht so durstig, dass wir uns zwei Stunden später, mutmaßlich juristisch ernsthaft fahruntüchtig, für den Heimweg in den Sattel schwingen. Brägel braucht ganze drei Minuten, um den Schlüssel ins Ringschloss und das Batterielicht in die Halterung zu fummeln, aber er kommt, wie alle anderen, gesund nach Hause.

      Nach diesem unfallfreien Finale sind wir uns trotzdem einig, dass das Thema ernst ist. Wir verlagern es allerdings hinter die Fastenzeit in den April. Solange gibt es keine Anhängerkupplungen und vom 6. März an ohnehin sechs Wochen keinen Alkohol. Oder zumindest fast keinen …

      2

      BRÄGEL UND SEINE FREUDE VOM RADCLUB

image

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона,


Скачать книгу