Gekonnt leiden. Jürgen Löhle

Gekonnt leiden - Jürgen Löhle


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und dann was von »meist ohne Motor oder maximal mit Stufe 1« sülzen – peinlich.

      Aber er lässt nicht locker. »E-Biken ist genauso Sport wie ohne Motor«, holpert er. Nein, ist es nicht und wird es nie sein, bekommt er von uns allen zurück. Sport ist treten, bis Blut kommt, und dann noch mal fünf Minuten. »E-Bike und Rennrad sind einfach nicht vergleichbar«, ergänzt der Präsident, »es kommt ja auch keiner auf die Idee, Fußballprofis mit Balletttänzern zu vergleichen, nur weil die Kicker wegen nix und wieder nix den sterbenden Schwan geben.«

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      Wenn wir also zusammen fahren, müsste eine echte Vergleichbarkeit hergestellt werden. Der alte Hans schlägt vor, dass man beim gemeinsamen Training ans E-Bike pro zehn Watt Motorleistung ein Kilo Blei anbinden müsste. Grob würde dann so ein E-Bike rund 50 Kilo wiegen, das wäre dann ansatzweise fair. Der Präsident hat dann noch die Idee, den Fahrer zu nivellieren. Er hätte mal gehört, dass Muskelaufbau nur über Testosteron funktioniert. Man wisse ja, dass Männer das Testosteron sozusagen im Unterleib produzieren würden, und wenn da nichts mehr wäre, könnte man das »E« dann schon akzeptieren. »Und was soll das bedeuten?«, fragt Brägel. »Ganz einfach – du lässt dich kastrieren, dann darfst du mit einem E-Bike mitfahren.« In Brägels Fassungslosigkeit hinein fügt der Präsi noch an, dass man den Eingriff auch jederzeit in seinem Hobbyraum durchführen könne. Der sei sauber, und wie man’s mache, habe er in einer landwirtschaftlichen Sendung im Fernsehen gesehen. Gut, das war bei Schweinen, aber das Prinzip sei durchaus vergleichbar.

      Als Brägel wieder Luft bekommt, lehnt er das präsidiale Angebot entrüstet ab. So weit ginge die Liebe zum Sport dann doch nicht. Wir erklären Brägel noch einmal, dass Sport etwas anders ist als »E« – zumindest, solange wir ohne fremde Hilfe in den Sattel kommen. Aber da wir an der Realität auch nicht völlig vorbeiradeln wollen, müssen wir uns etwas für die Zukunft einfallen lassen. Und nachdem die Vergleichbarkeit in einer Gruppe offensichtlich nicht realistisch herstellbar ist, müssen wir wohl oder übel die E-Biker auffordern, ihre eigene Trainingsgruppe zu gründen. »Können wir schon machen«, sagt der alte Hans, »aber die müssen dann eigene Trikots tragen, die keinen Rückschluss auf unseren ehrenwerten Club zulassen.« Außerdem sollten sie an ihren E-Möhren einen Ständer und Gepäckträger montieren, damit keiner auf die Idee kommt, das hätte was mit Rennradfahren zu tun. Brägel stimmt der Gründung einer Gruppe zu, das mit dem Trikot sei auch zu machen. »Bei dem Rad kann ich euch aber leider nicht helfen«, sagt er und präsentiert plötzlich einen Renner vom Feinsten aus Italien, in der Farbe, die der Kenner »Celeste« nennt. Außer, dass das Rad hinten eine etwas dickere Nabe hat, sieht man nichts; keinen Motor, keinen Akku. »Da kann man leider keinen Ständer dranschrauben«, erklärt uns Brägel. Wir sind sprachlos. Ein Velo, wie es schöner und edler kaum sein kann – und das Ding hat tatsächlich einen Motor. Das ist ein Skandal, und ich fürchte es ist erst der Anfang. Denn plötzlich legt der Präsi den Kopf leicht schief, reibt sich nachdenklich das Kinn und fragt Brägel: »Sag mal, was kostet so was eigentlich?«

      GEKONNT LEIDEN

      RADSPORTLER SIND ALLES – NUR NICHT GESUND

       2018

      Wer krank ist, gehört ins Bett oder sollte sich zumindest schonen. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht das natürlich anders aus, vor allem im Leistungssport. Und ganz besonders im Radsport, bei dem man als gesunder Mensch ja sozusagen chancenlos ist. Ein Profi-Peloton bei großen Rennen besteht zu sehr großen Teilen aus Asthmatikern, Allergikern und Menschen mit derart grausamen orthopädischen Gebrechen, dass sie tonnenweise entzündungshemmendes Kortison brauchen, um morgens ohne fremde Hilfe aus dem Bett zu kommen. Natürlich ist das kein Doping, sondern eine medizinische Notwendigkeit, schließlich lesen sich die Arztberichte großer Sieger oft wie eine Empfehlung, sich zeitnah um einen Hospizplatz zu bemühen. Brägel hatte deshalb schon mal die Geschäftsidee, in der gesunden Bergluft von Davos ein Seniorenstift für ehemalige Radprofis einzurichten, in dem man den Herren dann hilft, ihre Dosis pünktlich und richtig einzunehmen, wenn sie es nicht mehr selbst können. Oder einen Luftkurort als Dauerstartort der Tour de France zu etablieren. Zum Beispiel an der Nordsee.

      Aber Brägel wäre ja nicht Brägel, wenn er das Thema nicht auf seine Art vertiefen würde. Krank Rad zu fahren ist bei ihm ein Dauerzustand, der ihm hilft, seine persönliche Leistungsschwäche so einzuordnen, dass wir anderen beinahe in Tränen ausbrechen – was auch daran liegt, dass der Lapp so geschwollen daherredet. Neulich kommt er leichenblass zur Ausfahrt. »Mich hindert eine infektiöse Rhinitis am Atmen«, jault er. Gut: Dass man bei einem Schnupfen schwer Luft kriegt – geschenkt. Allerdings nur durch die Nase. Da Brägel aber sowieso immer den Unterkiefer bis zur Brust aufklappt, sollte das eigentlich kein Problem sein. Und beim Schlucken von Hefe hell waren auch keine nennenswerten Einschränkungen zu beobachten. Aktuell habe sich übrigens die »Rhinitis acuta zu einer Rhinitis allergica ausgewachsen«, wie er sagt. Heuschnupfen ist in der Tat Mist. »Aber zum Glück mit Kortison gut in den Griff zu kriegen«, sagt Brägel. »Das ist Doping«, ereifert sich der alte Hans. Brägel kontert, das sei medizinisch notwendig. »Außerdem nimmst du gegen deine erektile Dysfunktion Viagra«, nölt Brägel, »und das ist auch im Sattel leistungssteigernd.« Der alte Hans bekommt eine roten Kopf und nuschelt: »Steht aber nicht auf der Dopingliste …« Das ist immerhin korrekt.

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      Beim nächsten Stammtisch präsentiert Brägel seine ausführliche frühsommerliche Krankheitenliste: Unter der Rubrik »Atemwegserkrankungen« listet Brägel auf: Bronchitis, Laryngitis, Epiglottitis und Sinusitis. Der Präsident will gerade sagen, dass Epiglottitis eigentlich eine Kinderkrankheit ist, da meldet sich Brägel schon. »Alles behandelbar mit Kortison.« Dazu knallt er ein Attest von einem Lungenfacharzt auf den Tisch, von dem wir nur die Datumszeile verstehen. Zudem plage ihn neuerlich eine Stoffwechselerkrankung der Muskeln namens PSSM, gegen die anabole Steroide helfen. »Streng genommen bist du tot«, sagt der Präsi, »aber zumindest zum Radfahren viel zu krank.« Brägel winkt ab, er werde ja gut behandelt. Nach Quellenstudium fragen wir dann aber noch mal nach, wie das so sei mit seiner Polysaccharid Speicher Myopathie (PSSM). Die Krankheit gibt es nämlich nur bei Pferden, und ein Gaul sei er bei aller Liebe nun wirklich nicht. Außerdem würde man PSSM nicht mit Steroiden behandeln. Brägel nuschelt etwas von Verwechslung, hat aber seltsamerweise auch für PSSM ein unleserliches Attest dabei.

      Wir haben den Lapp dann ein wenig in die Zange genommen, und er hat uns schließlich gestanden, dass er Pillen und Säfte aus dem Netz und die Krankheiten aus dem Buch »Gekonnt leiden – alles für Hypochonder« entlehnt habe. Die Atteste stammen ebenfalls aus dem Internet. »Aber ich fühle mich wirklich schwach«, jammert er. Das freilich ist nicht neu, aber wir müssen als seriöser Verein natürlich reagieren. Beim nächsten Training bitten wir alle, die aktuell ärztlich verordnete, rezeptpflichtige Pharmazeutika einwerfen, sich zu einer eigenen Gruppe zusammenzufinden. Und schwupp: Bis auf drei stehen alle in der Pharmaabteilung. Damit ist der offensichtliche Beweis erbracht, dass Radler allesamt eher auf Kur als in den Sattel gehören. Und das offenbar nicht nur bei den Profis. Brägel wirft trotzdem noch ein Herzpillchen ein, ruft »Kette rechts«, und tritt an.

      FUSSGÄNGER GEDULDET

      BRÄGELS REGELN FÜR DAS RADFAHREN IN DER STADT

       2019

      Brägel hat es auf Seite 2 des Lokalteils unserer Zeitung geschafft – da sind wir uns ganz sicher. »Rad-Rambo gefährdet Fußgänger«, prangt da in fetten Lettern. Darunter ein Artikel, in dem steht, dass ein Rennradfahrer am vergangenen Mittwoch morgens um halb neun wild klingelnd durch die Fußgängerzone gebrettert sei. Manche Passanten konnten sich nur durch einen beherzten Sprung in Sicherheit bringen, der Radler sei dann laut fluchend, aber unerkannt verschwunden. Ein Augenzeuge wird zitiert: »Der hatte locker 40 Sachen drauf.« Gut, das spricht gegen Brägel, aber die Beschreibung (unverschämt, mittelalt, Bauchansatz, gelbes Trikot mit der Aufschrift »Balisto«) passt exakt.

      Okay,


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