Digitale Transformation von Arbeit. Hartmut Hirsch-Kreinsen
aufweisen (vgl. WEF 2018). Die weitgreifenden Digitalisierungsprozesse sollen dabei nicht nur zu einer positiven Entwicklung des Arbeitsmarkts, sondern auch zur Realisierung selbstbestimmter und qualifizierter Arbeit, einer Verbesserung der Work-Life-Balance und einer Bewältigung der demografischen Probleme beitragen. Eine absehbar positive Qualifikationsentwicklung betont beispielsweise Henning Kagermann (2014, S. 608), einer der Protagonisten der Vision Industrie 4.0, dem zufolge Mitarbeiter in Zukunft weniger als »Maschinenbediener« eingesetzt werden, »sondern mehr in der Rolle des Erfahrungsträgers, Entscheiders und Koordinators, (…) die Vielzahl der Arbeitsinhalte für den einzelnen Mitarbeiter nimmt zu«. Im Hinblick auf den Wandel von Arbeit werden unter Verweis auf Google und das Silicon Valley die dort anzutreffenden Formen digitalisierter Wissensarbeit – vernetzt, hoch flexibel, autonom, selbstbestimmt sowie kreativ – als der Arbeitstypus der Zukunft generalisiert (vgl. Weinberg 2016). Damit verknüpft sind Perspektiven, die seit längerem unter dem Label Agilität diskutiert werden. Darunter wird ein Gegenmodell zur tradierten bürokratischen Unternehmensorganisation verstanden, das sich durch flexible Formen der Projektorganisation und mittels digitaler Kommunikationssysteme und Methoden unterstützte Entwicklungs- und Innovationsprozesse auszeichnet. Der Ursprung dieses Modells stammt aus der IT- und Softwareindustrie, es wird aber zunehmend auch als relevant für Engineeringprozesse in traditionellen Industriezweigen erachtet (vgl. z. B. Boes et al. 2018).
Mehr noch: Davon ausgehend werden mit der fortschreitenden Digitalisierung bislang nicht gekannte Demokratisierungspotenziale auf der Ebene von Unternehmen, vor allem aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene verbunden (vgl. Herzog 2019). Für Unternehmen eröffnen sich demnach weitreichende Möglichkeiten, die Mitarbeiter systematisch am internen Entscheidungsprozess zu beteiligen und Partizipation und Mitsprache der Beschäftigten digital gestützt sehr deutlich zu erweitern – Stichwort ist hier »liquid democracy« – oder auch Chancenfairness für alle Unternehmensmitarbeiter gleichermaßen durchzusetzen (vgl. Sattelberger et al. 2015). Im Hinblick auf gesellschaftliche Trends wird die Entstehung einer neuen Qualität der Demokratisierung prognostiziert, und es werden durch die Digitalisierung ganz grundsätzlich große Chancen einer gesellschaftsweiten »Digitalen Aufklärung« gesehen (vgl. Urchs/Cole 2013). Darüber hinaus zielen noch weiter reichende Erwartungen auf Möglichkeiten einer Perfektionierung von Markt und Gesellschaft, indem die Unzulänglichkeiten und die Konfliktträchtigkeit ökonomischer und politischer Prozesse durch digitale Technologien als Koordinationsmedium überwunden und neue Niveaus einer kollektiven Effizienz und Effektivität erreicht werden. Zuboff (2019, S. 398 ff., 430 ff.) interpretiert diese Perspektive als die Vision einer »instrumentarian society«, die von Systemen Künstlicher Intelligenz abgebildet und gesteuert wird. Brüche, Fehler und Zufälligkeiten in gesellschaftlichen Prozessen werden tendenziell ausgeschaltet; Interessenkonflikte und aufwendige Verhandlungsprozesse zwischen heterogenen Akteuren werden durch Systemvorgaben zunehmend unnötig. Konkret greifbar wird diese Vision an der Debatte über mögliche Anwendungsmöglichkeiten der Blockchaintechnologie und die Objektivierung sozialer Prozesse. Bei entsprechender Konfiguration, so die Erwartung, können geschäftliche Verhandlungsprozesse durch autonome Systementscheidungen ersetzt werden. Es gebe dann keine Informationsasymmetrie und damit Machtasymmetrie mehr und das Prinzipal-Agent-Problem verschwinde. Denn sämtliche Informationen seien dann vorhanden, und vor allem existierten von vornherein vertrauenswürdige soziale Beziehungen (vgl. Henke 2018). In generellerer Hinsicht besteht die Erwartung, dass eine konfliktfreie Optimierung der gesellschaftlichen Produktivität möglich werde, die allerdings auch einen nachhaltigen Wandel der gesellschaftlichen Arbeit erfordere (vgl. Zuboff 2019, S. 410).
Es ist daher nicht übertrieben festzuhalten, dass der Digitalisierungsdiskurs gesellschaftspolitisch gesehen einen technikfixierten und ausgeprägt optimistischen, ja durchaus technikutopischen Charakter aufweist.4 Mit dem Begriff der Technikutopie kann dabei an einen historisch weit zurückreichenden Gesellschaftsdiskurs angeknüpft werden, der seinen Ursprung in den klassischen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts hat, in denen sich Gesellschaftskritik und gesellschaftlicher Gegenentwurf miteinander verbanden. Eine Spielart dieser Gesellschaftsvisionen ist ihr enger Technologiebezug. Historisch ist diese etwa mit der Ära der 1950er und 1960er Jahre vergleichbar, jener Zeit einer begeisterten Sicht auf die neuen Möglichkeiten der Raumfahrt und die Potenziale der Atomenergie; ebenso mit dem wissenschaftlichen und politischen Diskurs über die aufkommende Wissens- bzw. Informationsgesellschaft in den 1990er Jahren. Dabei wurde die schnelle Entwicklung von »High Tech« von vielen Beteiligten als eine überaus aussichtsreiche Lösungsoption für drängende gesellschaftliche Probleme angesehen (vgl. Segal 2005). Sehr charakteristisch hierfür ist eine damalige Formulierung des britischen Soziologen Rod Jeffcote (2003, S. 8): »Information technology we are told, holds the promise of wealth, global democracy and political participation«. Gegenwärtig, so lässt sich auch der deutsche Industrie-4.0-Diskurs interpretieren, erlebt Technikutopie als »Form der sozialen Konstruktion von Zukunft« eine neue Blütezeit. Deren hervorstechendes Merkmal ist, dass sie von der Perspektive einer generellen »Weltverbesserung« durch eine umfassende Nutzung von Internet und digitalen Technologien geprägt ist (vgl. Dickel/Schrape 2015).5 Das Schlagwort Digitalisierung wird – anders formuliert – gleichgesetzt mit der Formel: erfolgreiche Innovation gleich wohlstandserhaltende Zukunft gleich politische Stabilität (vgl. Sloane 2019).
1.3 Gegenstimmen: Skepsis und Befürchtungen
Der Digitalisierungsdiskurs ist allerdings auch geprägt von einem hohen Maß an Skepsis im Hinblick auf die Realisierbarkeit der weitreichenden Erwartungen und von Befürchtungen hinsichtlich negativer sozialer Konsequenzen. Bezüglich der deutschen Debatte über Industrie 4.0 lässt sich festhalten, dass vielfach die Realisierbarkeit von einschlägigen Konzepten angezweifelt wird und die ökonomischen Erwartungen als überzogen angesehen oder in Frage gestellt werden. Mit zugespitzten Formulierungen wie »Industrie 4.0 – der große Selbstbetrug« wird auf den bislang weithin unkalkulierbaren Aufwand bei der Umsetzung von Industrie 4.0 vor allem für mittlere und kleinere Betriebe hingewiesen (vgl. Maier/Student 2015). Die Kritiker gehen davon aus, dass besonders kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) aufgrund ihrer knappen Ressourcen noch auf lange Sicht mit der Einführung digitaler Technologien überfordert sein werden (
Ähnlich kritisch äußern sich Experten im Hinblick auf den Innovationsgrad des Konzepts Industrie 4.0. So fragt mancher Beobachter, ob mit der gegenwärtigen Debatte nicht »Alter Wein in neuen Schläuchen« angepriesen werde (vgl. Jasperneite 2012). Begründet wird diese Frage mit dem Hinweis, dass sich Industrie 4.0 nur schwer von Vorläuferkonzepten IT-gestützter