Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar
ein Rekrutierungspool
Von den Attentaten auf die Pariser Regionalbahn RER B bis zum Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo lassen sich inzwischen mehrere Generationen radikaler Islamisten in Frankreich unterscheiden (siehe unten).
Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um „hausgemachte Terroristen“ handelt, die in Frankreich zur Schule gegangen und ausgebildet worden sind. Zudem haben sie ein ganz ähnliches Profil: Alle blicken bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Sie haben Raubüberfälle begangen oder mit Drogen gehandelt und mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt. Nur Khaled Kelkal, der in die Bombenanschläge von 1995 verwickelt war, scheint in einer relativ „normalen“ Familie aufgewachsen zu sein; die Übrigen hatten eine schwierige Kindheit, häufig mit Heimaufenthalten. Ihre psychischen Probleme haben sie schon früh zu anfälligen Charakteren gemacht (das war auch der Fall bei Zacarias Moussaoui, der in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde). Überdies teilen sie denselben religiösen Werdegang. Sie waren sämtlich deislamisiert, bevor sie zu wiedergeborenen Muslimen oder unter dem Einfluss eines Gurus, ihrer Freunde oder ihrer Lektüren im Internet konvertierten und Dschihadisten wurden. Schließlich haben alle eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens oder in Kriegsgebiete unternommen (Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan …). Man kann also von fünf Phasen sprechen: Leben in der Banlieue, Straffälligkeit, Gefängnis, kriegerische Reise und radikale Islamisierung.
Das Leben in den Vorstadtgettos und das Gefühl des Ausgeschlossenseins
Die jungen Menschen aus der Banlieue, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: den Hass auf die Gesellschaft. Sie leiden unter einem tiefen Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie ihren Ausschluss als eine unverrückbare Gegebenheit erleben, als Stigmatisierung, die ihnen auf die Stirn geschrieben steht und ihrem Akzent so unwiderruflich anhaftet wie ihrer vom Argot der Vorstadtgettos und den angloarabischen Ausdrücken geprägten Sprache. Ihr körperliches Auftreten wird von anderen Bürgern oft als bedrohlich wahrgenommen. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen und verabscheuen Uniformen, selbst die von Feuerwehrmännern, als Ausgeburt einer unterdrückerischen Ordnung. Ihre Identität ist zutiefst geprägt vom Antagonismus zwischen „Integrierten“ – ob sie nun „Gallier“ sind oder Franzosen nordafrikanischer Herkunft, denen der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen ist – und Ausgeschlossenen. Stigmatisiert in den Augen der anderen, leiden sie unter dem intensiven Gefühl der eigenen Herabsetzung, das sich in einer Aggressivität ausdrückt, die beim geringsten Anlass aufflammen kann. Diese wendet sich nicht nur gegen Fremde, sondern häufig auch gegen Familienmitglieder, insbesondere den jüngeren Bruder oder auch die jüngere Schwester, falls sie es wagt, mit einem Jungen auszugehen (sie gehen zwar ihrerseits mit den Schwestern anderer aus, messen aber in ihrem Verhältnis zu Frauen mit zweierlei Maß). Das Vorstadtgetto wird zum inneren Gefängnis und die Selbstverachtung verkehrt sich in den Hass auf andere.
Vom Unbehagen zur Delinquenz
Durch sehr harte Arbeit gelingt es einem Teil dieser Jugendlichen, die Exklusion zu überwinden und in die Mittelschichten aufzusteigen. Oft brechen sie dann alle Beziehungen zu ihrem Viertel und den alten Freunden ab. Andere versuchen auf kriminellem Wege schnell zu Geld zu kommen und das erträumte Leben der Mittelschichten zu führen. Was ihnen am meisten zu schaffen macht, ist das Gefühl der Viktimisierung, also Opfer zu sein. Tatsächlich neigen sie zu der Überzeugung, Kriminalität sei der einzige Weg, auf dem sie in einer Gesellschaft, in der sie überall vor verschlossenen Türen stehen, Zugang finden können zu den Annehmlichkeiten eines Lebens, wie es die Mittelschichten führen. Ihr Hass und das Gefühl der Ungerechtigkeit finden ein Ventil in der Kriminalität und werden für eine Weile besänftigt durch den Zugang zu materiellen Annehmlichkeiten und die Verschwendung illegal beschaffter Güter. Aber einer sehr kleinen Minderheit reicht ein solches abweichendes Verhalten allein nicht aus. Häufig sind dies Jugendliche, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Ihre Selbstverachtung sitzt tief, die Stigmata, die mit dem Leben in den Trabantenstädten, der Kriminalität und einem aus den Fugen geratenen Leben einhergehen, sind ihnen zur zweiten Natur geworden. Was sie brauchen, ist eine Selbstbestätigung, durch die sie nicht nur ihre Würde wiedergewinnen, sondern zugleich ihre Überlegenheit über andere unter Beweis stellen können.
Im Dschihadismus nimmt ihr Hass eine neue Form an. Ihre ohnmächtige Wut verwandelt sich in heiligen Zorn. Sie wird sakralisiert. Das erlaubt es ihnen, ihre Misere durch das Bekenntnis zu einer Weltanschauung zu überwinden, die sie selbst zu Rittern des Glaubens macht und die anderen zu Ungläubigen, die ihr Existenzrecht verwirkt haben. Der radikale Islamismus bewirkt eine Umkehrung der Vorzeichen, eine existenzielle Häutung: Das Ich wird rein, die anderen unrein, Selbstverachtung verwandelt sich in Verachtung der anderen. Endlich ist man jemand und kann das Gefühl der Bedeutungs- und Bestimmungslosigkeit in einer Gesellschaft, in der man sich nur durch Gelegenheitsjobs oder Kriminalität über Wasser halten kann, hinter sich lassen. Eine Identität, die sich im Bruch mit den Anderen konstituiert, sinnt jetzt auf Vergeltung für das erlittene Unrecht. Und es ist die ganze Gesellschaft, die schuldig gesprochen wird. Sie ist, im dschihadistischen Jargon gesprochen, abtrünnig, gottlos, ungläubig. Diese Gesellschaft gilt es zu bekämpfen, selbst wenn man für die heilige Sache in den Tod gehen muss.
Das Gefängnis: Den Hass auf den anderen ausbrüten
Im Werdegang der jungen Dschihadisten aus den Vorstadtgettos spielt das Gefängnis eine maßgebliche Rolle – nicht so sehr, weil man sich dort radikalisiert, sondern weil dort der Hass auf den Anderen wie nirgends sonst heranreifen kann. Die täglichen Beziehungen sind von Reibereien mit dem Wachpersonal und der Haftanstalt als Institution geprägt. Sobald er gegen die im Gefängnis geltenden Regeln verstößt, erinnern die Sanktionen den Gefangenen an die Existenz eines Systems, dem er jede Legitimität abspricht. Darum finden die meisten Jugendlichen im Gefängnis nur noch mehr Gründe, die Gesellschaft zu hassen.
Im Gefängnis macht der junge Straftäter zudem die Erfahrung der Geringschätzung des Islam in ihrer institutionalisierten und depersonalisierten Form. Die Institution Gefängnis nimmt nicht immer groß Rücksicht auf Muslime: der Mangel an Imamen, kollektive Freitagsgebete, die, wenn überhaupt, dann unter Bedingungen stattfinden, die vom Argwohn gegenüber den Teilnehmern zeugen, Verbot von Gebetsteppichen im Hof … Der wachsende Einfluss der Salafisten auf inhaftierte Muslime vertieft den Bruch. Salafisten sind keine Dschihadisten, aber sie predigen eine sektiererische Version des Islams, die zur Desozialisierung der jungen Anhänger beiträgt, indem sie einen unüberwindbaren Graben nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen aufreißt, sondern auch zwischen guten Muslimen, die ihren Glauben gewissenhaft ausüben, und schlechten Muslimen, die es mit den religiösen Vorschriften und Verboten nicht so genau nehmen.
Wer islamistische Neigungen hat, wird durch die Haft, die Härten des Gefängnisalltags und die unausgefüllte Zeit, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß, noch anfälliger für die Sirenengesänge, die zur heiligen Gewalt aufrufen. Verwirrten Gemütern verheißt der radikale Islamismus eine Umkehrung der Rollen. Der junge Mann ist verurteilt worden, man hat ihn ins Gefängnis geschickt – aber künftig wird er es sein, der diese Gesellschaft ohne Erbarmen verurteilt, künftig wird er die Rolle des Richters übernehmen und als Ritter des Glaubens wider die Ungläubigen kämpfen. Der Gefangene gewinnt infolgedessen neues Vertrauen in sich selbst als jemand, der berufen ist, das göttliche Urteil zu vollstrecken.
Die Initiationsreise
Was den angehenden Dschihadisten endgültig von der Legitimität der Sache überzeugt, für die er kämpfen will, ist eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens, zu den Schauplätzen des Heiligen Krieges. Mohammed Merah war in Pakistan und Afghanistan; Mehdi Nemmouche ist in die Türkei gereist und steht im Verdacht, 2012 ein Jahr an der Seite von Dschihadisten in Syrien verbracht zu haben; die Brüder Kouachi waren im Jemen, wo sie eine militärische Ausbildung bei „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ genossen haben. Der Fall von Amedy Coulibaly mag die Ausnahme sein, obgleich sich Spuren von ihm in der