Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar
die gleiche Weise wahrgenommen wird. Der Separatismus wird als innergesellschaftliches Phänomen betrachtet, der radikale Islamismus dagegen als etwas erfahren, was von außen kommt, da der Islam der großen Mehrheit als nichteuropäische Religion gilt. In dieser Hinsicht sind im Übrigen die islamistischen Terroristen, die „von innen“ kommen, noch sehr viel beunruhigender. Sie stellen nicht nur eine Bedrohung dar, sondern auch einen Verrat an der europäischen Identität. Das Missverhältnis zwischen realer Bedrohung und subjektiv empfundener Angst hängt zusammen mit der Ausbreitung des Dschihadismus in der muslimischen Welt und den dort verübten Gräueltaten, den Blutbädern und hohen Opferzahlen, die auf die Verhältnisse im Innern projiziert werden. Man kann natürlich behaupten, es sei der erhöhten Wachsamkeit der Geheimdienste und der Polizei, also auch ihrer Konzentration auf diese Art des Terrorismus, zu danken, wenn der Dschihadismus größtenteils neutralisiert wird und die Zahl dschihadistischer Anschläge in Europa relativ gering bleibt. Wie immer es sich damit verhält – die symbolische Dimension des Islamismus ist von fundamentaler Bedeutung. Mohammed Merah hat sieben Personen getötet, darunter drei Kinder, aber die Wirkung dieser Morde bemisst sich nicht an der Zahl der Opfer. Die Tat hat ein sehr viel tieferes Gefühl der Unsicherheit hervorgerufen als der linksextreme oder rechtsextreme Terrorismus in Europa. Auch der „unmenschliche“ Charakter des radikalen Islamismus und seine schwer zu akzeptierenden Motive spielen eine Rolle. Die erklärte Absicht, die „Ungläubigen“ zu töten, steht in scharfem Kontrast zu den „innerweltlichen“ Motiven anderer Terroristen (Klassenkampf bei den linksextremen, Krieg gegen einen invasorischen Islam bei den rechtsextremen Bewegungen, der Wille zur Abspaltung von den Vereinigten Staaten bei den ultrakonservativen Aktivisten in Amerika ...).
Der Begriff der Radikalisierung in den Sozialwissenschaften
Um sich der Radikalisierung zu nähern, reicht ein von Sicherheitsbedürfnissen diktierter Zugang nicht aus, so sehr diese Dimension durch die Besorgnis der Staaten auch in den Vordergrund treten mag. Für den Soziologen geht es darum, die Frage nach den Formen des Aktivismus in einen weiteren Horizont zu rücken und namentlich die tieferen Beweggründe des extremistischen Täters zu analysieren. Der Wissenschaftler wird insbesondere nach den langfristigen Effekten der Stigmatisierung, der Demütigung, den unscheinbaren Formen der Ablehnung und Exklusion fragen müssen, denen der Täter in der Gesellschaft ausgesetzt ist. In den Aufklärungs- und Eindämmungsstrategien wird diese Dimension häufig vernachlässigt. Die Aufgabe des Soziologen besteht aber gerade darin, den Fokus von einer nur in polizeilicher Absicht geführten Auseinandersetzung mit dem Phänomen zu erweitern, um in einer umfassenderen Perspektive dessen wirtschaftliche und politische, ja sozioanthropologische Gesichtspunkte freizulegen. Radikalisierung darf nicht unter bloßen Sicherheitsaspekten betrachtet werden, sie muss zu einer Problemstellung der soziologischen Erkenntnis werden. Die klassischen Arbeiten über den Terrorismus streifen die Frage nur, ohne sie ausdrücklich ins Auge zu fassen, während das neu erwachte Interesse an der Radikalisierung sehr viel größeren Nachdruck auf die institutionellen, organisationellen Ursachen, aber auch auf die subjektiven Formen legt, die mit ihnen verknüpft sind. Dabei treten insbesondere neue Formen der symbolischen Akkulturation durch das Internet oder die Vernetzung innerhalb geschlossener Gruppen in den Blick, aber auch Formen der Abschottung des Individuums, das sich „autoradikalisiert“, indem es alle Beziehungen zu „normalen Menschen“ kappt, die neuen Bindungen vor Familie und Freunden geheimhält und über die sozialen Medien (Facebook, Twitter) Kontakte zu anderen Personen knüpft, die es nur über das Netz kennt. Schließlich lenkt das Interesse an der Radikalisierung die Aufmerksamkeit auf die Modalitäten des Übergangs zur Gewalt im Zuge ideologischer Beeinflussung und auf Entscheidungen, die von einer gewissen Unschlüssigkeit und Ungewissheit getragen sein können (wenn die Logik der Gruppe überwiegt, der das Individuum sich anschließt aus Furcht, allein und ohne Stütze dazustehen) oder im Gegenteil durch die feste Entschlossenheit, mit der Gesellschaft die Klingen zu kreuzen. Es lenkt, anders gesagt, die Aufmerksamkeit auf Formen der Subjektivierung, die für Täterkarrieren entscheidend sind, deren Modalitäten die klassische Soziologie des Extremismus aber nicht hinreichend Rechnung getragen hat.
Im Prozess der Radikalisierung treffen häufig eine kurzfristige und eine mittelfristige, ja sogar langfristige Entwicklung zusammen. Man radikalisiert sich nicht in ein paar Tagen. Der Prozess nimmt mehr Zeit in Anspruch, er setzt Monate der „Reifung“ voraus: anfangs ganz unscheinbare Veränderungen der Denkweise, der Affektivität, des sozialen Umgangs des Betreffenden, dessen Umgebung zuweilen eine merkwürdige Veränderung spürt, ohne sie recht greifen zu können. Die kurzfristige Entwicklung kann nach einer individuellen, in manchen Fällen auch kollektiven „Reifezeit“ (von mehreren Individuen gemeinsam) im Übergang zur Gewalttat bestehen: Geiselnahmen, Morde, Massaker … Einmal in Gang gekommen, schließt die Radikalisierung eine symbolische Mobilisierung ein, bei der die Medien dazu beitragen, den Status des „negativen Helden“ aufzubauen, den die Radikalisierten (extremistische Islamisten oder säkulare Extremisten wie Breivik in Norwegen) sich bereitwillig zu eigen machen. Diese symbolische Dimension, die bei den klassischen Spielarten des Terrorismus nicht zu beobachten war (die Anarchisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts legten es nicht auf diese Art der Berühmtheit an), unterstreicht den psychoanthropologischen Aspekt neuer Formen der Radikalisierung.
Bis in die 1980er Jahre, vor dem Berliner Mauerfall, konnte die Radikalisierung auf ein wohldefiniertes und staatlich untermauertes ideologisches Inventar zurückgreifen. Die bipolare Welt ließ für eine „Psychologisierung“ der Radikalisierung keinen Raum. Das Psychische spielte eine Rolle, aber alles war darauf angelegt, seine Wirkungen in Grenzen zu halten. In beiden Blöcken gab es eine gut eingeführte Terminologie, genau bestimmte Einsätze und institutionalisierte Formen sozialen Verhaltens, die eine „individuelle Verwilderung“ sehr unwahrscheinlich machten. Heute dagegen hat die Radikalisierung zwar „objektive Gründe“ (Exklusion von Jugendlichen mit muslimischen Migrationshintergrund, Konflikte in der islamischen Welt, die proisraelische Politik der Vereinigten Staaten gegenüber den Palästinensern …), aber die rein subjektive Dimension gewinnt eine immer größere Bedeutung. Sie ist es, die durch einen soziologischen und anthropologischen Zugang freigelegt werden kann.
Der Begriff der Radikalisierung wirft daher in den Sozialwissenschaften Erkenntnisprobleme auf, die weit über die von Sicherheitsbedürfnissen geleitete Perspektive der Geheimdienste und der Polizei hinausgehen.
Bleibt festzuhalten, dass der Begriff des Terrorismus ein Gebiet absteckt, das sich mit dem der Radikalisierung weitgehend deckt.3 Er soll eine soziologische Erklärung für die Tendenz bestimmter Gruppen bieten, zu ideologisierter Gewalt zu greifen (Wieviorka 1988). Aber er schließt den Staatsterrorismus ein, während Radikalisierung, wie wir schon hervorgehoben haben, auf begrenzte Gruppen beschränkt ist und den Staat gerade ausschließt. Wenn es um den Begriff Terrorismus geht, interessiert sich der Soziologe weniger dafür, dass Individuen sich radikalisieren, als vielmehr für die politische und soziale Bedeutung des Problems. Die Rolle der Individuen, ihrer mentalen und psychischen Verfassung, bleibt der sozialen, politischen und internationalen Dynamik untergeordnet. Der Begriff der Radikalisierung dagegen lenkt die Aufmerksamkeit des Soziologen auf das Individuum, seine Subjektivität, die Modalitäten seiner Subjektwerdung und seines Anschlusses an die Gruppe. Und auf die Interaktion von Gruppe und Individuum in einem Zusammenspiel, in dem die individuelle Psychologie ebenso eine Rolle spielt wie das Charisma des Anführers und die von der Gruppe proklamierten Ideale. Auch im Begriff der „Masse“ mit ihren komplexen Beziehungen zum Führer, wie Freud, Canetti oder Le Bon sie beschreiben, finden sich Querverbindungen zu dem der Radikalisierung. Aber der Radikalisierungsbegriff ist vor allem auf den radikalen Islamismus und seine Eigentümlichkeiten zugeschnitten und stellt den „sektiererischen“ und „gesellschaftsfeindlichen“ Charakter der meisten Gruppen heraus, die diesem Weltbild anhängen – im Namen einer Ideologie, die sich unmittelbar auf die Religion beruft, und säkularer Ideologien, deren Angelpunkt das „Volk“ oder das „Proletariat“, die „weiße Rasse“ oder das „Arische“ ist, mythische Personifikationen immanenter menschlicher Kollektive.
Der Begriff der Radikalisierung versucht, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Erklärung für ein zumindest aus westlicher Sicht seltsam anmutendes Phänomen zu geben: Die Rückkehr des Religiösen in einer gewalttätigen Form, in der das letzte Ziel der Akteure der Tod ist – sei es der dem Feind zugefügte, sei