Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar


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sich dem geheiligten Tod, dem Märtyrertum, verschrieben haben, um einen Kampf zu führen und Werte zu verteidigen, die seit der Aufklärung längst überwunden schienen: Die in Europa und namentlich in Frankreich herrschende Überzeugung, die Entscheidung über soziale und politische Belange liege beim „Volk“, lässt für Gott keinen Raum mehr. Angesichts jener Rückkehr mehren sich Stimmen, die den „innerweltlichen“ Blick der Sozialwissenschaften in Frage stellen. Tatsächlich geht es dem Begriff der Radikalisierung unter anderem darum, eine immanente Erklärung für Beweggründe zu bieten, die von den Akteuren selbst als „transzendent“ ausgegeben werden – im Rekurs auf eine Religiosität, die in den 1960er Jahren noch als veraltet, ja archaisch galt. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive soll der Radikalisierungsbegriff die Überlebensfähigkeit von „todesträchtigen“ Formen der Religiosität (die Feier des Märtyrertodes) oder – das Oxymoron ist aktueller denn je – „neoarchaischen“ Ausdrucksmöglichkeiten erklären, bei denen es unter religiösen Vorzeichen zu einer Verkehrung der Lebensideale kommt. Die Herausforderung an die Adresse der Sozialwissenschaften besteht darin, diesen Typ von Religiosität ohne Rekurs auf die Theologie zu erklären. Die theologischen Vorstellungen der Akteure müssen einen nichttranszendenten, immanenten Bedeutungsgehalt haben, der sich in soziologischen und anthropologischen Begriffen klären lässt.

      Im Westen steht im Übrigen das massive Auftreten der Radikalisierung in einem ganz bestimmten Kontext, nämlich dem der Deinstitutionalisierung. Zahlreiche Institutionen haben zum Schaden weiter Teile der Bevölkerung eine Schwächung erfahren, manche sind ganz zerfallen. Das gilt für die Gewerkschaften oder für politische Parteien wie die Kommunistische Partei, deren Verschwinden oder Marginalisierung die wirtschaftliche und soziale Integration der Unterschichten extrem erschwert hat. Solange in Frankreich und Italien die Kommunistische Partei stark war, bot sie zahlreichen Arbeitern oder Arbeiterkindern eine genau umrissene soziale Identität und eine damit einhergehende Selbstachtung. Der Niedergang der Kommunistischen Partei hat sich überdies in einer Situation vollzogen, in der ein bedeutender Teil der Unterschichten wirtschaftlich ausgegrenzt wurde und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten mehr hat. Wenn zur Exklusion die Stigmatisierung hinzukommt, entsteht eine explosive Mischung. Doppelt geschlagen und ihrer politischen Ausdrucksmittel beraubt, neigen diese Gruppen dazu, entweder in stummer Passivität zu verharren, die von wachsender Kriminalität begleitet wird, oder aber ihrem Aufbegehren durch eine Gewalt Ausdruck zu verleihen, zu deren Ausdrucksweisen der radikale Islamismus zählt. Die Lage verschärft sich aufgrund der mentalen Verfassung derjenigen, die zu einem solchen Typus von Aktion neigen. Der Bezugspunkt „islamisch“ setzt einen Steigerungsmechanismus in Gang, der sehr weit führen kann, sobald die Symbole des Dschihad, des Heiligen Krieges, einmal mobilisiert sind und Aktivistengruppen aus anderen Teilen der Welt, insbesondere über das Internet, eine Verstärkerfunktion ausüben. In der muslimischen Welt haben die neoliberalen Politiken der Öffnung, der Infitah, Ende der 1980er Jahre die implizite Übereinkunft in Frage gestellt, die darin bestand, den Autoritarismus zu akzeptieren, um im Gegenzug in den Genuss sozialer Vergünstigungen zu kommen. Der Dschihadismus ist Ausdruck dieser Situation, in der das Aufbegehren, aber auch das offenbare Scheitern des autokratischen Nationalismus und der Mythos des „ursprünglichen Islam“ neue antimoderne Utopien hervorbringen.

      Außer Frage steht die Beziehung zwischen Dschihadismus und sozialer Exklusion – in Europa die Exklusion der Generationen mit Migrationshintergrund, die der Marginalisierung überantwortet sind, in der muslimischen Welt die Exklusion modernisierter Gesellschaftsschichten, vor allem der Mittelschicht. Zahllose ausgebildete Jugendliche finden dort keinen Arbeitsplatz, fühlen sich von despotischen und korrupten Machthabern ausgegrenzt und werden zu selbsternannten Fürsprechern der zu Armut oder Machtlosigkeit verurteilten Schichten (mustadafun). Dazu kommt das Ende der bipolaren Welt, in der die Ideologie auf der einen wie der anderen Seite eine maßgebliche Rolle spielte. Der Islam übernimmt fortan die Funktion, die einst Utopien kollektiven Heils hatten, sei es in ihrer marxistischen Version (der Klassenkampf, der der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende setzt), sei es in ihrer liberalen Version (der Markt als Wunderlösung aller Probleme).

      In der Forschung wird Radikalisierung häufig als Verknüpfung einer extremistischen Ideologie mit einem mehr oder weniger organisierten Gewalthandeln begriffen (Bronner 2009). Gewalthandeln ohne radikale Ideologie kann verschiedene Formen annehmen (Kriminalität, mehr oder weniger situationsbedingte oder durch mentale Störungen hervorgerufene Gewalt). Und radikale Ideologien können auf einer theoretischen Ebene verharren, ohne zum Einsatz von Gewalt zu führen. Von Radikalisierung im strengen Sinne des Begriffs kann erst dann gesprochen werden, wenn es zu einer Verbindung beider kommt.

      Eine zu massiver Gewalt führende Radikalisierung war nicht vor der Einführung neuer Technologien möglich. Erst mit der Erfindung des Dynamits, der Fotografie und der Telegrafie war es den Dezembristen (antizaristischen Revolutionären in Russland vom Dezember 1825) möglich, eine Reihe von Taten zu verüben, denen eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen zum Opfer fiel, und dafür zu sorgen, dass die Nachricht von diesen Taten um die ganze Welt ging. Zugleich hat der Wille zur Selbstbehauptung durch den vom Dschihadismus gefeierten Märtyrertod zu neuen Formen des Handelns geführt, etwa dem der „menschlichen Bomben“, die bereit sind, sich zu opfern, um Dutzende, ja Hunderte von Personen mit sich in den Tod zu reißen (Cook 2010; Kepel 2003). Und die Medien werden im großen Stil dafür genutzt, die Nachricht zu verbreiten, um die „Feinde“ einzuschüchtern und den „Freunden“ Mut zu machen.

      Festzuhalten ist auch, dass es Radikalisierung nicht allein in muslimischen Ländern oder bei Gruppierungen gibt, die sich im Westen oder anderswo (Indien, Thailand, China …) auf den Islam berufen. Man kann sich im Namen anderer religiöser oder säkularer Ideologien radikalisieren, wie es sie auf der ganzen Welt gibt: Neonazismus und Neofaschismus in Europa, ökologischer Extremismus (Ökoterrorismus, ein Ableger der deep ecology), Pro-Life-Ideologien, die nicht davor zurückschrecken, gewaltsam gegen Abtreibung oder Homosexualität vorzugehen (Tote in den Vereinigten Staaten und den muslimischen Ländern). Gleichwohl steht der radikale Islamismus im Zentrum der überwältigenden Mehrheit der Studien zur Radikalisierung, nicht allein wegen der Wucht der Anschläge vom 11. September 2001 und der wechselvollen Geschichte des Mittleren und Nahen Ostens, sondern auch, weil die islamistischen Anschläge in Europa und den Vereinigten Staaten gegenüber jenen, die auf das Konto anderer Formen des Terrorismus gehen, als sehr viel bedrohlicher erlebt werden (selbst wenn die Zahlen das Gegenteil sagen). Wie die Bedrohung im Westen wahrgenommen wird, hängt also entscheidend von der symbolischen Dimension des islamistischen Terrors ab.

      Im Prozess der Radikalisierung lassen sich verschiedene Phasen voneinander abheben:

      •die Phase der Präradikalisierung,

      •die der Identifikation des Akteurs mit radikalen Bewegungen,

      •die der Indoktrinierung als Beeinflussung durch extremistische Lehren und schließlich

      •die Phase der direkten Einbeziehung der Adepten in die Ausführung von Gewalttaten (Silber & Bhatt 2007; McCauley & Moskalenko 2008).


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