Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar
Fälle bestätigt die Initiationsreise den jungen Dschihadisten in seiner neuen Identität: Sie erlaubt es ihm, mythische Bande zu den muslimischen Gesellschaften zu knüpfen, obwohl er ihre Sprache nicht spricht und mit ihren Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist. Eine solche Reise bietet ihm zudem die Möglichkeit, sich im Umgang mit Waffen zu schulen. Vor allem aber dient sie dazu, gegenüber der eigenen Gesellschaft zum „Fremden“ zu werden. Der junge Dschihadist lernt, „mitleidslos“ zu werden, Geiseln oder inkriminierte Personen (Polizisten, Soldaten, Juden, „schlechte Muslime“) ohne Gefühlsregung professionell zu exekutieren, alle moralischen Bedenken über Bord zu werfen, kurzum: zum hartgesottenen Kämpfer in einem bis zum Äußersten gehenden Heiligen Krieg zu werden.
Ein negativer Held werden
In diesem Stadium verspürt der junge Dschihadist das unwiderstehliche Bedürfnis, gegen seine eigene ungeliebte Gesellschaft mit der Neo-Umma eins zu werden. Der dschihadistische Islam stellt ihm den Status des absoluten Helden in Aussicht. Als Mudschahed (Glaubenskrieger, vom selben Wortstamm wie Dschihad) wird er ein Märtyrer sein. Er wird töten und Angst verbreiten. Der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird ihm Größe verleihen und ihn mit Stolz erfüllen. Umso mehr wird er alles daransetzen müssen, dass die anderen und vor allem die Medien sein Bekenntnis zum Dschihadismus als solches erkennen und anerkennen. Und es sind in der Tat die Medien, in denen die Kunde von seinen Untaten um die ganze Welt geht, die seinen Ruhm verbreiten, ihn zum Weltstar machen werden. Mit ihrer Hilfe wird er aus der Anonymität und Bedeutungslosigkeit heraustreten und zum „negativen Helden“ werden. An die Stelle der Verachtung, die ihm die weißen arrivierten Franzosen entgegengebracht haben, tritt Todesangst. Seine Überlegenheit bemisst sich daran, dass die anderen um ihr Leben fürchten. Im Übrigen fühlt er sich von den Medien anerkannt, wenn er tagelang die Nachrichten und die Schlagzeilen beherrscht. Mohammed Merah und Amedy Coulibaly wussten sehr gut, dass die Kameras der Welt auf sie gerichtet waren.
Eine neue Gruppe: Jugendliche aus den Mittelschichten
Die regressive Utopie der Neo-Umma übt kombiniert mit der Rolle des furchtlosen Ritters im Dschihad eine unwiderstehliche Faszination auf bestimmte Jugendliche in den Vorstadtgettos aus. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2013 gibt es indessen einen zweiten Rekrutierungspool für den Dschihadismus: Jugendliche aus den Mittelschichten, die in einer Sinnkrise stecken.
Vor 2014 mehr oder weniger unbekannt, machen sie inzwischen neben Jugendlichen aus der Banlieue einen nicht unbedeutenden Teil der angehenden Dschihadisten aus, die nach Syrien aufbrechen, um sich in den Dienst des „Islamischen Staates“ (Daesh) oder anderer, aus dem Umfeld von al-Qaida stammender dschihadistischer Gruppen wie der al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra) zu stellen.
Diese Jugendlichen, oft Heranwachsende mit Entwicklungsstörungen, verstärken die Reservearmee des Dschihad, nachdem sie zum Islam konvertiert sind. Unter ihnen finden sich ernüchterte Christen auf der Suche nach starken Erlebnissen, wie sie der institutionalisierte Katholizismus nicht bieten kann, ebenso wie säkularisierte Juden, die eines Judentums ohne religiöse Verankerung müde sind, und Buddhisten, die mit der friedfertigen Spielart dieser Religion in Europa brechen, um nach einer im Dienste des Heiligen Krieges erstarkten Identität zu suchen …
In der Horde der Dschihad-Aspiranten sind auch junge Mädchen aus gutem Hause auf der Suche nach einer postfeministischen Erfahrung, die mit dem Reiz des Fremden lockt und geeignet scheint, einem zu prosaisch gewordenen Leben neuen Sinn zu verleihen. Oft zieht es sie zu den jungen Männern, die ihre Männlichkeit und Verlässlichkeit unter Beweis stellen, indem sie dem Tod ins Auge blicken. Bei ihnen glauben sie Schutz zu finden, ohne ihre Würde als Frau preisgeben zu müssen. Und sie stellen sich auch selbst in den Dienst des Heiligen Krieges: Mit ihrem Bekenntnis zum radikalen Islam werden sie zu Gefährtinnen der Glaubenskrieger und erleben in dieser freiwilligen Knechtschaft ein Vertrauensverhältnis zu Männern, die nichts mit den von Unreife und Lebensangst geprägten Jungen aus ihrer Umgebung gemein haben, die unbeständig sind und nach Lust und Laune ihre Freundinnen wechseln.
Anti-68er
Anders als die Dschihadisten aus der Banlieue beseelt diese Jugendlichen aus den Mittelschichten nicht der Hass auf die Gesellschaft. Und anders als diejenigen, die ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft verinnerlicht haben, ist ihr Leben auch vom Drama der Viktimisierung verschont geblieben. Ihr Problem ist eines der Autorität und der Normen. Die Patchwork-Familie hat in dieser Generation zu einem Autoritätszerfall geführt, und das erstarkte Recht des Kindes hat einen Typus des „früherwachsenen“, aber häufig zugleich unreifen Jugendlichen auf den Plan gerufen. Die Kombination aus Rechtsansprüchen, der Aufsplitterung der Autorität zwischen verschiedenen Elterninstanzen sowie einer Aufweichung von Normen (republikanische eingeschlossen) lässt im Gegenzug den Ruf nach unverbrüchlichen Regeln und starken Autoritäten laut werden. Eine Minderheit dieser neuen Generation leidet darunter, es mit mehreren diffusen Erziehungsinstanzen, aber mit keiner klar definierten Autorität zu tun zu haben. Daher ihr Wunsch nach trennscharfen Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Die islamistischen Normen bieten eine solche unzweideutige Abgrenzung, die das Verbotene in aller Schärfe namhaft macht. Der radikale Islamismus erlaubt es dieser Jugend, das spielerische Wagnis mit dem tödlichen Ernst dschihadistischer Glaubenssätze zu verknüpfen. Er gibt ihnen das Gefühl, sich nicht allein unverrückbaren Normen zu beugen, sondern mit deren Durchsetzung in der Welt betraut zu sein, das Verhältnis von Heranwachsendem und Erwachsenem umzukehren und derjenige zu sein, der die heiligen Normen aufrichtet und sie den anderen auferlegt.
Die sich für den Dschihad begeisternde Jugend verkörpert Ideale, die denen des Mai ’68 diametral entgegengesetzt sind. Ging es damals um Steigerung der Lust in der Unendlichkeit eines gegen gesellschaftliche Zwänge zurückeroberten Begehrens, so ist es dieser neuen Generation im Gegenteil darum zu tun, dem Begehren strikte Regeln aufzuerlegen: Im Bekenntnis zu einem strenggläubigen Islamismus wird es Einschränkungen unterworfen, die ihm in den Augen der Jugendlichen eine neue Würde verleihen. Und wollte man sich damals von Einschränkungen und illegitimen Hierarchien befreien, so wünscht man sie heute herbei und sehnt sich nach sakralen Normen, die dem freien Willen des Menschen entzogen sind. Damals war man Anarchist und vom Hass auf patriarchale Mächte durchdrungen. Heute rehabilitiert sich der radikale Islamismus, indem er sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau wendet, eine verquere Form des Patriarchats im Rekurs auf einen unversöhnlichen und ungnädigen Gott – Widerpart sowohl eines verweichlichten Republikanismus als auch eines allzu humanisierten Christentums. Der Mai ’68 war ein ununterbrochenes Fest, das sich im Rausch der Reisen nach Kathmandu und Afghanistan fortsetzte. Heute folgt die dschihadistische Initiationsreise dem Streben einer Reinheit, die sich in einem dem Tod ins Auge sehenden Märtyrertum erfüllt.
Der Niedergang des Politischen
Neben den Phantasmen einer sakralisierten Normativität spielt auch die internationale Situation eine nicht unerhebliche Rolle. Zahllose Jugendliche treibt die Forderung nach Gerechtigkeit für Syrien an, wo ein blutrünstiges Regime 200 000 Menschen getötet und Millionen anderer in die Flucht geschlagen hat. Sie wähnen sich auf einer humanitären Mission, die sich mit einem sich selbst als gutwillig verstehenden Dschihadismus verbindet. Wo der Westen sein Unvermögen gegenüber einer verbrecherischen Diktatur unter Beweis gestellt hat, kämpfen jene Jugendlichen, mit einem naiven Glauben gerüstet, gegen das Böse – im Namen eines Dschihad, dessen monströsen und entmenschenden Charakter sie häufig nicht ermessen. Der Übergang kann sich schleichend vollziehen, wie das bei bestimmten Mitgliedern der Roubaix-Gang der Fall war, etwa bei Christophe Caze, der sich in den 1990er Jahren humanitären Projekten gewidmet hatte, bevor er zum radikalen Islamisten wurde.
Dass Jugendliche aus den Mittelschichten sich der nach Syrien exportierten Spielart des Dschihadismus anschließen, wirft die Frage nach dem Unbehagen auf, das diese Jugend empfindet. Sie leidet am Niedergang des Politischen, sie ist empört über die Ungerechtigkeit in einem durch die Medien nähergerückten Syrien, dessen Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in monströsen Ausmaßen verübt. Und sie sucht nach etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verleiht. Die Jugend aus den Vorstadtgettos hat in der Regel eine infra- oder suprapolitische