Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar


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wie Anders Breivik, der zur extremen Rechten zählende norwegische Terrorist, auf dessen Konto das Gemetzel vom 22. Juli 2011 geht. Breivik hatte „Werbung“ für seine Ideologie gemacht, indem er am Tag des Anschlags elektronisch ein Dokument verbreitete, das seinen „Kulturkonservatismus“, seinen Ultranationalismus, seine Islamophobie, seinen Antifeminismus, seinen „weißen Nationalismus“ und seinen Zionismus feiert, um dem Multikulturalismus „Eurabias“9 und den Muslimen entgegenzutreten, die es zur Rettung des Christentums aus Europa zu vertreiben gelte. 1518 Seiten stark, ging sein Manifest 2083, das er nicht auf Norwegisch, sondern auf Englisch verfasst hatte, um es der ganzen Welt zugänglich zu machen, an mehr als tausend Adressaten, unterstützt von zahlreichen Posts auf der Seite document.no, die ihrerseits der weltweiten Information und Verführung dienen sollten. Für Breivik waren die Anschläge selber Teil seines Werbefeldzugs für das Projekt eines neuen Europa.

      Diese drei Dimensionen, die im Kontext der Globalisierung ineinandergreifen, haben die radikalisierten Personen verinnerlicht. Die Gewalttat und die Berichterstattung über sie sind nicht mehr voneinander zu trennen. Die symbolische Dimension, die nicht allein der Information, sondern auch der Einschüchterung und Verführung dient, und die Konditionierung des Gegners durch den Schock der Bilder (die beim Täter das Gefühl der Allmacht wecken) gehen Hand in Hand mit der Brutalität der Tat: Das radikalisierte Subjekt handelt nicht allein, um Schaden anzurichten, sondern auch, um im Dienst der eigenen Sache „die Trommel zu rühren“.

      Die Radikalisierung gewinnt also eine imaginäre Dimension ausgehend von Bildern, die man im Internet oder im Fernsehen gesehen hat, und aufgrund von Freundschaften, die nicht nur in der Nähe (die Kumpel), sondern auch in der Ferne, im Internet oder im Gefängnis mit Individuen geschlossen werden, die schon radikalisiert sind oder aufbegehren, weil sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit (als Muslim) oder ethnischer Merkmale (als Araber, Schwarzer, „Gris“, wie Franzosen maghrebinischer Herkunft in Frankreich genannt werden) ungerecht behandelt werden.

      Auf anthropologischer Ebene hat die Radikalisierung eine unleugbare politische Dimension, die sich aber auf eine Weise ausdrückt, die man infra- oder suprapolitisch nennen kann (Wieviorka 1988). Infrapolitisch: Indem es sie mit einer affektiven Dimension überblendet und Gewalt zum Mittel seines Handelns macht, bringt das radikalisierte Individuum seinen Groll und seinen Willen zur Veränderung zum Ausdruck, ohne auf Lösungen zu sinnen, die politisch umsetzbar wären. Gewalt kann durchaus zu Lösungen führen, aber häufig verschärft sie Spannungen und hat eine kontraproduktive Wirkung, weil sie den Gegner seinerseits radikalisiert, statt Verhandlungsbereitschaft zu wecken. Die suprapolitische Dimension liegt darin, dass es mitunter haltlose Utopien sind, die zur Radikalisierung führen (die Utopie eines universalen, in sämtlichen islamischen Gesellschaften, ja der ganzen Welt herrschenden Neokalifats, der die Dschihadisten anhängen, ist metapolitisch und so wenig zu verwirklichen wie eine klassenlose Gesellschaft).

      Dergestalt wird die Politik durch die Logik der Radikalisierung fehlgeleitet, insbesondere dann, wenn Letztere sich einer supranationalen oder transnationalen Utopie verschrieben hat. Robert Pape (2006) hat darauf hingewiesen, dass die überwältigende Mehrheit von Selbstmordattentaten nicht religiösen Motiven, sondern der Anwesenheit einer fremden Armee auf nationalem Gebiet geschuldet ist. Tatsächlich ist es mir darum zu tun, zwischen zwei Typen von Utopie zu unterscheiden. Die erste ist begrenzt und beruht häufig auf präzisen Beanstandungen und „realistischen“ Forderungen. Der Nationalismus oder seine islamonationalistische Spielart sind das verbreitetste Modell. Das angestrebte Ideal ist ein konkretes, nämlich die Bildung einer Nation. Das ist der palästinensische Fall, aber auch der kaschmirische, tschetschenische … Wenn dieser Utopie derart unüberwindbare Hürden im Weg stehen, dass die Verfechter an ihrer Verwirklichung verzweifeln, tritt eine zweiter Typ von Utopie auf den Plan, den ich „entfesselt“ nenne und bei dem es sich um die Radikalisierung des erstgenannten Typs handelt. Auf den ersten Fall trifft die Hypothese von Robert Pape zu: Nimmt eine fremde Armee für einen mehr oder weniger langen Zeitraum ein Gebiet ein, so besteht bei eklatantem Missverhältnis der Kräfte eines der Mittel zu ihrer Bekämpfung in Selbstmordanschlägen. Ist die Utopie dagegen „entfesselt“ – wie der globale Kampf gegen den Imperialismus, die Errichtung einer weltweiten klassenlosen Gesellschaft oder das von al-Qaida und den von ihr beeinflussten Gruppen verfochtene Neokalifat –, ist ihre Verwirklichung in keiner absehbaren Zukunft denkbar. In Europa haben die Entscheidung für den radikalen Islamismus und die wenigen Selbstmordanschläge nichts mit einer bewaffneten Präsenz im Heimatland ihrer Urheber zu tun, bei denen es sich größtenteils um hausgemachte Terroristen handelt. Diese werden von einem doppelten Groll umgetrieben. Demütigung im Heimatland (in Europa) und Bedrängnis der muslimischen Länder anderswo verschränken sich in einem Modell, in dem die imaginäre Konstruktion von eminenter Bedeutung ist. Die Radikalisierung ist im Fall der beschränkten Utopie anderer Art als in dem der entfesselten Utopie.

      Charakteristisch für die Radikalisierung ist häufig eine Gefühlslage, in der auf der einen Seite erlittene Demütigung und Verzweiflung, auf der anderen Seite aber der Wille, dem Feind eine noch tiefere Demütigung zuzufügen, und die Überzeugung, die Utopie im Ausgang von einer „Theologie der tollkühnen Hoffnung“ verwirklichen zu können, eine zeitlich unbestimmte Aussicht auf einen künftigen Frieden eröffnet. Verzweiflung und Demütigung können sich in gewalttätigem Verhalten (Radikalisierung) aussprechen, ohne zwangsläufig von jener Theologie der tollkühnen Hoffnung begleitet zu werden, aber der Wille, den Feind eine noch tiefere Demütigung spüren zu lassen, ist in sämtlichen Formen der Radikalisierung allgegenwärtig. Im radikalen Islam sind die radikalisierten Akteure von der Idee durchdrungen, infolge des beharrlichen dschihadistischen Kampfes werde Gott eingreifen, um eine auf den Islam gegründete universelle Theokratie zu errichten. Der Wille, den arroganten Westen und eine Welt, die den Idealen, die man verkündet, feindlich gegenübersteht,


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