Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar


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die ihrerseits keine anderen Kontakte mehr pflegen und der Außenwelt feindlich gegenüberstehen. Durch das Leben in diesem verborgenen und abgeschlossenen Universum im Zeichen eines Reinheitsideals, das bis zur Gewalt gegen andere gehen kann, wird man zusehends „radikalisiert“.6

      Bei bestimmten Individuen spielen die im Internet geknüpften Beziehungen zu radikalisierten Gruppen eine wesentliche Rolle. Das Individuum wie seine „Kampfgenossen“ üben gewalttätige Reflexe ein, und die wechselseitige Imitation wie der Heldenkult verstärken ihre antagonistische Haltung gegenüber der Gesellschaft. Die Führerschaft nimmt in solchen Gruppen eine dezentrale und nicht hierarchisierte Form an (Sageman 2004; Leiken & Brooke 2006). In dieser Hinsicht schwächen derlei Netzwerke die Rolle der Persönlichkeiten und rufen radikale Splittergruppen ohne Führer (leaderless) auf den Plan (Sageman 2008).

      Man kann diese Auffassung freilich bestreiten, insbesondere im Hinblick auf die Entfaltung neuer Formen der Radikalisierung im Gefängnis, aber auch auf der Straße, wo der charismatische Führer eine unleugbare Rolle dabei spielt, andere, zuweilen unterwürfige oder psychisch gefährdete Personen in Gruppen einzubinden, die weniger als drei Mitglieder haben können (Khosrokhavar 2013).

      Andere insistieren auf kulturellen Prägungen und der entscheidenden Rolle, die sie in einem globalisierten Kontext spielen. Auf diesen kulturalistischen Zugang geht etwa die Rede von „Gewaltkulturen“ (Jürgensmeyer 2003) oder „gewalttätigen Subkulturen“ in Gesellschaften zurück. Im Übrigen können Gruppierungen aufgrund ihrer Stigmatisierung oder ihrer Geschichte (das mag der „interne Kolonialismus“ oder jede andere Kränkung sein, die Grund zur Klage gegen die Gesamtgesellschaft gibt) ein starkes Gefühl der Viktimisierung, ein Opferbewusstsein, entwickeln („wir sind die unschuldigen Opfer der Gesellschaft“), das sie zur „legitimen“ Gewalt gegen andere greifen lässt.

      Ein anderes Korpus von Forschungen zur Radikalisierung konzentriert sich spezifischer auf religiöse Ideologien. Diese Forschungen verweisen darauf, dass in den durch Immigration entstanden muslimischen Gemeinschaften in Europa strenggläubige Auslegungen des Islam (vor allem in Organisationen wie den Tablighi Jamaat oder bei den Salafisten) auf fruchtbaren Boden stoßen. Daher die Sympathie für radikale Versionen der Religion Allahs (Coolsaet 2005). Diese Theorien bleiben freilich eine Antwort auf die Frage schuldig, weshalb extremistische Versionen anderer Religionen nicht in den „Heiligen Krieg“ münden.

      Schließlich versuchen sich Theorien der rationalen Entscheidung (rational choice theories) an einer „rationalen“ Deutung radikalen Handelns. Aus ihrer Perspektive gehen terroristische Akte als bewusst vollzogene Handlungen auf eine wohlüberlegte Entscheidung zurück, die auf Strategien setzt, mit denen sich die ins Auge gefassten Ziele am besten erreichen lassen – insbesondere dann, wenn der Gegner auf militärischer Ebene derart überlegen ist, dass die Gruppe in einem klassischen Krieg keine Aussicht auf einen Sieg hätte (vgl. Gambetta 2005). Wenn al-Qaida sich für den Terrorismus entscheidet, ist dies in Anbetracht der eigenen Größe im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zum Westen überhaupt eine rationale Entscheidung für eine Strategie, die der Organisation Handlungsmöglichkeiten einräumt, die ihr in einem klassischen Krieg verschlossen blieben. Die Radikalität der Akteure hat also eine Dimension, die sich nicht aus affektiven Gegebenheiten erklären lässt, und ist Teil eines strategischen Kalküls, das eine eigene „Rationalität“ besitzt.

      Grundlegend für die neuen Formen der Radikalisierung ist das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft. Durch die Identifikation mit einer Neo-Umma (die ersehnte innige muslimische Gemeinschaft von mythischer Homogenität) versucht der Dschihadist der kalten Gesellschaft, in der er lebt, zu entrinnen, wo seine Anomie (Nichtzugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Gruppe) mit Stigmatisierung und sozialer Bedeutungslosigkeit einhergeht.

      Mein Ansatzpunkt ist der einer soziologischen Akteurstheorie, die das Handeln des radikalisierten Individuums in einer globalisierten Welt in den Blick nimmt, in der sein Verhalten drei Bedingungen gehorcht:

      •als gedemütigtes Individuum: Das ist der Fall der Jugendlichen aus französischen Vororten und getto­isierten Vierteln in Großbritannien oder der von Israel gedemütigten jungen Palästinenser, aber auch der Jugendlichen des Nahen und Mittleren Ostens, die häufig eine gute wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, aber keine Arbeit finden oder sich von autoritären Regimen ausgegrenzt fühlen … Ob sie aus den Unterschichten oder der Mittelschicht stammen – diese Individuen werfen dem System vor, sie zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen und zu demütigen, indem es sie politisch und ökonomisch an den Rand drängt.

      •als viktimisiertes Individuum: Demütigung, Frustration, Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung werden innerhalb einer imaginären Struktur erlebt, die dem Individuum das halb reale, halb fiktive Gefühl, keine Zukunft zu haben, vor verschlossenen Türen zu stehen, kurzum: das Gefühl einer inneren Gettoisierung vermittelt.

      Wer diese Situation passiv erduldet, mag in die Kriminalität oder individuelle Gewalt abrutschen. Wer dagegen aufbegehrt und aktiv wird, tut dies häufig, indem er seine innere Erfahrung ideologisiert und durch Übernahme dschihadistischer Vorstellungen seinen Hass gegen die „Nichtmuslime“ richtet. Der Islamismus bietet eine aktivistische Alternative, die linksextreme Ideologien nicht mehr zu bieten vermögen,


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