Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
nicht locker.
»Wenn die Mutter ledig war, ginge natürlich alles sehr schnell. Dann wäre Tim ja als Waise anzusehen.« Denise sah hinüber zur Couch. Der Säugling schlief friedlich. Er hatte von seinem schlimmen Schicksal keine Ahnung.
»Dann hängt also alles von der Klärung des Falles ab.« Astrid Langenburg legte mit spitzen Fingern einen Scheck auf die Tischplatte und erhob sich rasch. »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen«, sagte sie reserviert. »Selbstverständlich erkundige ich mich wieder nach meinem Schützling.«
Ein wenig hochmütig neigte die reiche Frau den Kopf und verließ dann stolz und aufrecht das Zimmer. Denise läutete nach der Kinderschwester.
*
Nick, der hübsche Junge mit dem blauschwarzen Haar und den blitzenden dunklen Augen, stürmte temperamentvoll in die Halle. Er sah gerade noch, dass Pünktchen und Angelika eilig die Treppe emporrannten.
»Moment!«, rief Nick halblaut. »Ich gehe baden. Kommt ihr mit?« Er schwenkte die Badehose.
Die beiden Mädchen wandten sich um und kamen dann rasch zurück. Eigentlich hatten sie eine derartige Einladung noch nie abgeschlagen, doch jetzt schüttelte Pünktchen, die Kleine mit dem langen blonden Haar, den leuchtend blauen Augen und den vielen lustigen Sommersprossen auf dem Stupsnäschen, bedauernd den Kopf.
»Schwester Regine hat uns versprochen, dass wir das Baby spazieren fahren dürfen«, berichtete Angelika aufgeregt.
»Welches Baby denn?«, fragte Nick verblüfft. Als künftiger Erbe von Sophienlust kümmerte er sich eifrig um alles, was das Kinderheim betraf. Eigentlich war es noch nie vorgekommen, dass es auf Sophienlust etwas gab, was er nicht wusste. Obwohl er mit seiner Mutti, seinem Stiefvater und dem Halbbruder Henrik auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, kam er jeden Tag nach Sophienlust. Meist benutzte er für die kurze Strecke das Fahrrad, manchmal kam er aber auch hoch zu Ross, oder Denise nahm ihn im Wagen mit.
»Weißt du denn noch nichts von dem Findelkind?« Pünktchen blies erstaunt die Backen auf. Sie war seit vielen Jahren in Sophienlust. Das große schöne Haus war ihr zur zweiten Heimat geworden, und Nick war fast so etwas wie ein Bruder für sie. Von Anfang hatte er sich liebevoll um sie gekümmert. Viele gemeinsame Erlebnisse verbanden die beiden Kinder, ließen sie fast unzertrennlich werden.
»Ein Findelkind? Bei uns?« Nick strich sich die dunklen Locken aus der Stirn. »Ich habe immer gedacht, so etwas gäbe es nur in Büchern.«
»Nein, es gibt Tim wirklich. Und Frau Langenburg hat ihn tatsächlich gefunden. Einfach auf einer Bank am See.« Angelika reckte sich ein wenig. Sie war sehr stolz darauf, endlich einmal mehr zu wissen als Nick.
»Willst du ihn sehen?« Für Pünktchen stand bereits fest, dass sie an diesem Nachmittag auf ein erfrischendes Bad verzichten würden.
»Blöde Frage«, murmelte Nick gekränkt und wandte sich der Treppe zu.
Im Säuglingszimmer drängten sich bereits die übrigen Kinder von Sophienlust. Alle wollten sehen, wie Tim gewickelt wurde.
Schwester Regine hatte den Buben und Mädchen das Zuschauen lächelnd erlaubt. Sie wusste, dass schon in wenigen Tagen die Neugierde verflogen sein würde.
»Na, was sagst du nun? Ist das nicht ein süßer kleiner Junge?« Pünktchen stupste ihren Freund Nick in die Seite.
»Es geht.« Nick war noch immer verärgert. Außerdem beschäftigte ihn Tims Herkunft. Wer mochte den kleinen hilflosen Kerl ausgesetzt haben? Das musste man doch herausfinden. Jedes Kind hatte Eltern. Auch der kleine Tim. Wo waren sie? Warum kümmerten sie sich nicht um ihn?
Das Interesse der übrigen Kinder galt dem Baby. Niemand kümmerte sich um Nick. Auch Pünktchen schien dessen Anwesenheit völlig vergessen zu haben.
Schwester Regine erläuterte den kleineren Kindern die wichtigsten Begriffe der Babyhygiene, und Tim ließ alles geduldig über sich ergehen. Er quietschte ein bisschen, als Schwester Regine flink und geschickt seine Nasenlöcher säuberte und die Hautfalten an seinem Hals mit einem ölgetränkten Wattebausch abrieb. Doch dann war er sofort wieder friedlich. Überhaupt schien er ein sehr ruhiges, zufriedenes Baby zu sein.
Eine Weile sah Nick der Kinderschwester über die Schultern der Kameraden hinweg zu. Er stellte fest, wie sehr sie sich freute, wieder einmal ein Baby versorgen zu dürfen. Jeder Handgriff schien ihr Freude zu machen. Dann wandte sich Nick ab. Irgendwie fühlte er sich überflüssig. Er ging langsam die teppichbelegte Treppe hinunter und hinaus in den gepflegten Park.
Obwohl es draußen heiß war, hatte Nick keine Lust mehr, schwimmen zu gehen. Allein machte es ihm keinen Spass. Missmutig setzte er sich in den Schatten einer alten Rotbuche, zog die Beine an und wartete.
Er sah, dass der alte Justus den Kinderwagen vors Portal brachte und schließlich Schwester Regine sehr gewissenhaft und vorsichtig das Baby hineinpackte. Pünktchen und Angelika ergriffen voll Stolz gemeinsam den Schiebegriff. Die übrigen Buben und Mädchen hielten sich zurück und wandten sich schließlich dem Spielplatz zu. Nick war das ganz recht. Er wartete noch etwas, dann lief er den beiden Mädchen nach.
»Hör mal, wir haben ausgelost, wer Tim spazieren fahren darf. Und wir haben den Treffer gezogen«, meinte Angelika ein wenig aggressiv.
»Ach, lass ihn doch«, beschwichtigte Pünktchen. »Nick will bestimmt nicht den Wagen fahren. Dazu ist er doch schon viel zu groß.« Heimlich bewunderte sie den bildhübschen Nick, der schon ein bisschen erwachsen war. Und manchmal wünschte sie sich, dass er mehr in ihr sehen sollte als nur ein kleines Mädchen.
»Genau.« Nick blieb absichtlich an der Seite der Mädchen. »Weiß man denn gar nichts Näheres über Tim?«, fragte er neugierig.
»Doch. Alle vier Stunden bekommt er das Fläschchen. Und genauso oft wird er gewickelt.«
Angelika fühlte sich recht erwachsen. Ein lebendiges Baby zu betreuen, das war doch etwas ganz anderes, als mit Puppen zu spielen. Tim war auch viel hübscher als die schönste Puppe. Wenn er schlief, wie jetzt, sah er wie ein Barockengel aus.
»Das meine ich doch nicht.« Nick verdrehte die Augen. »Wo hat man ihn gefunden? Und wie?«
»Ist doch nicht so wichtig«, antwortete Angelika. »Die Hauptsache, er ist hier.«
»Finde ich auch«, pflichtete Pünktchen ihr bei. »Wenn man seine Mutti findet, holt sie ihn wieder weg. Also möchte ich gar nicht wissen, wer sie ist.«
»Mit Mädchen kann man sich einfach nicht richtig unterhalten.« Nick verzog den Mund und blieb stehen. Natürlich fand er Tim auch nett, doch das Getue der Mädchen war ihm einfach zu albern.
Nick ging langsam den Weg zurück. Er würde mit seiner Mutti über alles sprechen. Sie hatte ganz bestimmt Verständnis für die Fragen, die ihn quälten.
*
Das Abendbrot im Hause Langenburg wurde ungewöhnlich still eingenommen. Nur das Klappern der Bestecke war zu hören. Eben verließ das Hausmädchen das Esszimmer, um die Vorspeise-Schalen hinauszubringen.
Max Langenburg hob den Kopf und sah seine Tochter forschend an. Das Mädchen schaute stur auf seinen Teller und stocherte lustlos im Essen herum.
»Ich hätte gedacht, dass du nach sechs Wochen Erholungsaufenthalt in Österreich frischer und gesünder zurückkommen würdest, Sissi«, meinte der Verleger in liebenswürdigem Ton. Er hing sehr an seiner Tochter aus erster Ehe, hatte jedoch kaum Gelegenheit, ihr das zu zeigen. Die Arbeit im Verlag beanspruchte ihn zu sehr. Da er sich alle Entscheidungen selbst vorbehielt, war er dort unabkömmlich. Aber er hatte es verstanden, das Unternehmen ständig zu vergrößern, seinen Reichtum zu mehren. Doch das alles war auf Kosten seines Privatlebens gegangen. Max Langenburg hatte weder Zeit für seine zweite Frau noch für seine Tochter. Abende, an denen er – wie jetzt – zum Nachtmahl zu Hause war, hatten Seltenheitswert.
»Das Kind hat sich doch fabelhaft erholt«, mischte sich Astrid Langenburg ein. »Nur die lange Fahrt hat Elisabeth ein wenig blass gemacht. Morgen ist das schon