Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
nicht weit. Du findest Sophienlust ganz leicht.«
Der Gong, der zur nächsten Unterrichtsstunde rief, beendete die Unterhaltung. Nick schlenderte in sein Klassenzimmer zurück. Die Kameraden hänselten ihn wegen der neuen Freundin. Doch das war ihm völlig gleichgültig.
*
Astrid Langenburg legte ein kostbares Kollier um und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Sie verzog das strenge Gesicht zu einem liebenswürdigen Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand. Sie hatte im Spiegel ihre Stieftochter entdeckt. Unbemerkt musste sie hereingekommen sein. Erschreckend ernst sah sie aus.
»Ich wollte mit dir reden.« Da Sissi sich nie dazu entschließen konnte, Astrid »Mutti« zu nennen, wie es die herrschsüchtige Stiefmama von ihr verlangte, verzichtete sie auf jede Anrede.
»Tut mir leid, ich bin zum Abendessen eingeladen. Ich muss mich beeilen.« Astrid verließ den Platz vor dem Frisierspiegel und griff nach der bereitliegenden Nerzstola.
»Ich komme eben von Sophienlust.« Feindselig klangen die wenigen Worte.
Astrid Langenburg erschrak. Aber sie hatte sich in der Gewalt, ließ sich nichts anmerken. »Was ist das für ein Ort?«, fragte sie scheinheilig.
»Das ist ein Kinderheim, und du weißt es ganz genau.« Entschlossen trat Sissi einen Schritt näher. Sie hatte sich jahrelang den Wünschen dieser Frau gefügt, doch nun war der Punkt erreicht, da es keinen Gehorsam mehr gab.
»Möglich, dass ich einmal eine Spende …« Astrid tat, als interessiere sie dieses Gespräch überhaupt nicht. »Der Chauffeur wird gleich hier sein. Ich habe ihm gesagt, dass er Blumen für die Frau Kommerzialrat besorgen soll. Gelbe Teerosen. Was meinst du dazu?«
Astrid versuchte von dem verfänglichen Thema abzulenken, aber damit hatte sie bei Sissi kein Glück. »Du hast ein Kind hingebracht, einen kleinen Jungen! Er ist etwa drei Wochen alt. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?« Hart und anklagend kamen die Worte von den Lippen des Mädchens. Hoch aufgerichtet stand Sissi plötzlich vor ihrer Stiefmutter.
Astrid wich dem Blick der zornigen blauen Augen aus. »Was redest du nur für einen Unsinn«, murmelte sie, konnte aber nicht verhindern, dass sie blass wurde. »Hast du Fieber, Elisabeth? Du solltest dich hinlegen. Wahrscheinlich ist die Schule zu anstrengend für dich. Wir sollten überlegen, ob du nicht noch eine Woche pausieren kannst.«
»Ich habe kein Fieber, und ich weiß sehr gut, was ich sage«, erklärte das Mädchen, außer sich vor Empörung. »Du hast angegeben, den kleinen Tim am Attersee gefunden zu haben. Aber das ist eine Lüge, gib’s doch zu! Du hast nicht nur mich belogen, sondern auch Frau von Schoenecker. Gemein finde ich das von dir! Was hast du der Hebamme bezahlt, damit sie dieses Spiel mitmacht?« Das erste Mal in ihrem Leben schrie Sissi. Sie erschrak über den schrillen Ton der eigenen Stimme. Zitternd hielt sie inne.
»Haben wir nicht vereinbart, dass über diese leidige Angelegenheit nicht mehr gesprochen wird?«, herrschte Astrid Langenburg ihre Stieftochter an. Jahrelang hatte sie das Mädchen durch ihre Härte und Konsequenz einschüchtern können. Diesmal gelang es ihr nicht.
»Ich will aber darüber sprechen. Denn es geht nicht nur um mich. Ich kann nicht zulassen, dass ein unschuldiges Kind um alles betrogen wird.« Sissis Atem ging laut und hechelnd. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn.
»Willst du Schande über deinen Vater bringen? Willst du alles, was er in jahrelanger Arbeit erreicht hat, aufs Spiel setzen? Willst du, dass man mit Fingern auf ihn zeigt?«, schrie Astrid zurück. Auf ihren Wangen brannten jetzt hektische rote Flecken.
»Man kann Tatsachen nicht einfach totschweigen, wie du dir das denkst. Das ist Unrecht.« Es war das erste Mal, dass Sissi sich gegen ihre Stiefmutter auflehnte. Doch schon zeigte sich, dass sie dieser Frau nicht gewachsen war. Heiße Tränen strömten plötzlich über ihr zuckendes Gesicht.
Astrid registrierte es mit Genugtuung. Sissis Zorn war ein Strohfeuer gewesen. Sie brauchte ihn nicht ernst zu nehmen. Sissi würde parieren. Alles würde genau nach Plan verlaufen.
Selbstsicher sah die elegante Frau auf das junge Mädchen. »Du hast mir geschworen, den Mund zu halten – in deinem eigenen Interesse, wohlbemerkt. Nun halte dich auch daran!«, zischte sie gefährlich leise und drohend.
»Aber das Kind«, schluchzte Sissi. Unendlich einsam und verlassen kam sie sich vor. Ausgeliefert einer Frau, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hatte. Schmerzlich sehnte sie sich nach dem einzigen Menschen auf dieser Welt, der sie jetzt verstehen würde. Aber auch er hatte sie allein gelassen, war unerreichbar.
»Geht dich überhaupt nichts an. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe das Baby tatsächlich am Attersee gefunden. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Das glaube ich nicht!« Grenzenlose Verzweiflung sprach aus Sissis Augen. »Ihr habt mich belogen, habt meine Hilflosigkeit ausgenutzt.« Es war ein Versuch, Frau Astrid doch noch dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Doch er war zu schwach, um Eindruck auf die selbstbewusste zweite Frau des Verlegers zu machen.
»Ich würde mich schämen«, meinte Astrid verächtlich, »die Güte, die du erfahren hast, so schlecht zu lohnen. Dankbar müsstest du mir sein, dass ich dich vor allen Unannehmlichkeiten bewahrt habe. Es war gar nicht so einfach, meine Liebe, das alles zu arrangieren. Vor allen Dingen war es äußerst schwierig, zu vermeiden, dass dein Vater Verdacht schöpfte. Du unterschätzt, was ich alles für dich getan habe.«
Ich habe dich nicht darum gebeten, dachte Sissi verzweifelt, doch sie hatte nicht mehr die Kraft, sich gegen die Stiefmama aufzulehnen. Stumm, mit gesenktem Kopf, hörte sie sich Astrids Vorwürfe an.
»Jetzt, nachdem alles vorbei ist, willst du den Erfolg der Aktion gefährden? Ja, bist du denn noch bei Verstand?«
Für mich war das keine Aktion, hätte Sissi schreien mögen. Für mich war es das größte Erlebnis, das ich je hatte. Doch kein Wort kam über ihre bleichen Lippen.
»Die Sache mit dem Findelkind fiel rein zufällig in denselben Zeitraum. Die Herkunft des Jungen wird sich irgendwann herausstellen. Dann wirst du einsehen, dass du mir Unrecht tust.« Astrid griff nach ihrem eleganten Abendtäschchen.
»Aber Tim hat große Ähnlichkeit mit Frank.« Sissi konnte kaum sprechen. Ihre Hände verkrampften sich ineinander. Ihr war schwindlig.
»Habe ich dir nicht verboten, diesen Namen noch einmal auszusprechen? Bitte, halte dich daran!« Astrid kam sehr nahe. Sissis Hartnäckigkeit reizte sie. »Dieser junge Mann hat uns Ärger genug bereitet. Ich wünsche, dass du ihn endgültig vergisst. Die Sache ist abgeschlossen. Und wenn du nicht vernünftig bist, dann kann ich ganz anders zu dir sein. Ich könnte deinem Vater ein paar interessante Geschichten erzählen, und das könnte sehr unangenehm für dich werden. Denke also immer daran. Und hüte dich davor, mich noch einmal so unverschämt zu verdächtigen. Verlasse jetzt bitte mein Zimmer.«
Dieser Befehl klang so hart und unnachgiebig, dass Sissi zitternd gehorchte. Schwankend torkelte sie durch den teppichbelegten Flur. Es war alles aus! Ihre aufkeimende Hoffnung war wie ein schwaches Pflänzchen rücksichtslos zertreten worden. Sissi fühlte sich so elend wie noch nie zuvor.
*
Frank hatte seinen armseligen Koffer in einem Schließfach am Bahnhof abgestellt. Er trug wieder den billigen Anzug, den einzigen, den er besaß. Seit zehn Minuten war er in der Stadt, in der er aufgewachsen war, in der seine Eltern gelebt hatten. War dies seine Heimat? Nein. Seine Heimat war bei Sissi. Dort, wo sie war, war sein Zuhause.
Vieles hier erinnerte den jungen Mann an die schönste Zeit seines Lebens. An die Zeit, da er mit Sissi glücklich gewesen war. Er musste sie wiedersehen, musste wissen, wie es ihr ging.
Sein letztes Geld hatte Frank für die Fahrkarte ausgegeben. Er hatte kein Zimmer, wusste nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Doch das war nicht so wichtig. Zuerst wollte er zu dem Mädchen, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing.
Eilig ging der junge Mann durch die Straßen. Er sah weder nach rechts, noch nach links, achtete nicht auf den vorbeirollenden Verkehr. Mit