Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
vor Beginn der Feierlichkeiten geschenkt hatte: den Ring seiner Mutter.
Rein und hell erklangen die Stimmen des Kinderchors von Sophienlust. Der Verleger Max Langenburg musste sich vor Rührung immer wieder über die Augen fahren. Astrid saß bescheiden an seiner Seite.
Es war alles sehr schön und feierlich, bis sich der kleine Tim an jene krächzenden Töne erinnerte, die die Kinder von Sophienlust ihm beigebracht hatten und die denen des Papageis Habakuk sehr ähnlich waren.
Das kleine Mädchen presste vor Schreck beide Hände auf den Mund. Starr sahen die blauen Kinderaugen auf die flimmernde Scheibe des Fernsehers.
Irmela fasste unwillkürlich nach dem Arm der jüngeren Freundin. Hart und schmerzhaft war dieser Griff. Doch Pünktchen, die diesen lustigen Spitznamen den vielen Sommersprossen auf ihrem Stupsnäschen zu verdanken hatte, spürte es gar nicht.
»Das ist doch …«, wisperte die blonde Angelika.
»Pst!« Nick legte den Zeigefinger über die Lippen und zog unwillig die Stirn in Falten. Interessiert verfolgte er den Bericht. Doch als der Tagesschausprecher auf ein anderes Thema überging, schnellte er hoch und lief rasch aus dem Zimmer. Ohne anzuklopfen stürmte er ins Büro der Heimleiterin, Frau Rennert.
Nick wusste, dass sich seine Mutti im Moment dort aufhielt, und ihr musste er unbedingt erzählen, was er eben erfahren hatte.
Denise von Schoenecker, die sich mit Frau Rennert eben über einige geplante Anschaffungen unterhielt, hob überrascht den Kopf mit dem glänzenden dunklen Haar. Noch immer wirkte sie jung und schön.
»Mutti, es ist etwas Schreckliches geschehen«, platzte Nick heraus, ohne sich für die Störung zu entschuldigen. »Wir haben es eben in der Tagesschau gesehen.« Die Wangen des Jungen waren vor Aufregung heiß und rot.
Ruhig sah Denise auf ihren ältesten Sohn Nick. Er war ein großer, ausgesprochen hübscher Junge mit blau-schwarzem Haar und einer sonnengebräunten Haut. Oft gaben ihm die Mädchen offen zu verstehen, dass er ihnen gefiel. Doch das interessierte Nick überhaupt nicht. Noch war er jener liebenswerte Junge, der begeistert auf Bäume kletterte und nicht an Flirts dachte.
»Das Flugzeug ist abgestürzt«, sprudelte Nick jetzt hervor. »Es war ein technisches Versagen gleich nach dem Start. Der Pilot wollte eine Notlandung versuchen, aber es war bereits zu spät. Da war ein Filmstar im Flugzeug, und die Fotografen, die gefilmt hatten, standen noch in der Halle, als der Riesenvogel zu schwanken begann. Mit ihren Teleobjektiven haben sie den Absturz gefilmt. Deshalb konnte man in der Abendschau alles genau sehen.«
»Es war grässlich«, bestätigte Irmela, die inzwischen ebenfalls aus dem Aufenthaltsraum herübergekommen war. Hinter ihr drängten sich Angelika, Pünktchen und Fabian.
»Hat man gesagt, um welches Flugzeug es sich handelt?«, erkundigte sich Denise von Schoenecker vorsichtig. Eine geheime Ahnung hatte sie bereits.
»Das Flugzeug, das heute früh nach Thailand gestartet ist«, berichtete Nick ein wenig außer Atem. »Stell dir vor, Mutti, es hat überhaupt keine Überlebenden gegeben.«
»Aber das ist doch die Maschine, mit der die Ertels in den Urlaub fliegen wollten.« Denise von Schoenecker wurde blass, denn jetzt schien sich ihre unheimliche Vorahnung zu bestätigen.
»Die Eltern von Tanja und Torsten?«, erkundigte sich Frau Rennert erschrocken.
»Es war das Flugzeug, mit dem sie starten wollten«, piepste Pünktchen weinerlich. »Ich weiß das so genau, weil Torsten und Tanja am Vormittag immer wieder auf die Uhr geschaut haben. Immer, wenn es in der Luft brummte, sind sie hinausgerannt und haben gewinkt.«
»Mein Gott«, murmelte Frau Rennert und ließ den Kopf sinken.
»Der Tagesschausprecher hat mehrmals erwähnt, dass die Maschine nach Thailand fliegen wollte«, berichtete Irmela sachlich. Ohne es zu merken, faltete sie die Hände und drückte die Finger so fest gegeneinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Die Kinder von Sophienlust wussten, was es hieß, die Eltern zu verlieren. Fast alle hatten sie diese traurige Erfahrung gemacht, fast alle wussten sie, was es bedeutete allein auf dieser Welt zu sein. Deshalb waren sie Denise von Schoenecker, die sie in Sophienlust aufgenommen hatte, auch so dankbar. Denn hier war man bemüht, den kleinen Waisen nicht nur Essen und Kleidung, sondern auch Geborgenheit und Liebe zu schenken.
Denise, die in jeder Situation ihre beruhigende Gelassenheit behielt, legte die Prospekte, die sie eben studiert hatte, weg. »Es könnte ja auch sein, dass die Ertels gar nicht an Bord gegangen sind. Vielleicht waren sie verhindert.«
»Glaubst du das, Mutti?« Nick legte den Kopf schief und musterte seine hübsche Mutter eingehend. Irgendwie spürte er, dass sie ihn und die Kameraden nur trösten wollte.
»Wir müssen abwarten«, wich Denise aus. Nein, auch sie glaubte nicht an diesen Zufall. Die Ertels hatten sich zu sehr auf diese Reise gefreut, um im letzten Moment darauf zu verzichten. Denise erinnerte sich, wie strahlend ihr das sympathische Paar von den Zielen dieser Reise berichtet hatte. Weil dieser Urlaub für die Kinder zu strapaziös gewesen wäre, hatte es Tanja und Torsten vorübergehend nach Sophienlust gebracht. Die beiden hatten sich gut eingelebt und sofort Kontakt zu den anderen Kindern gefunden.
»Bitte, sagt Tanja und Torsten nichts davon und lasst euch auch nichts anmerken.« Denise sah ihren Schützlingen fest in die Augen. Sie wusste, sie würde sich auf ihre »Großen« verlassen können.
»Wie gut, dass unsere Jüngsten schon im Bett sind«, jammerte Frau Rennert. »Es wäre furchtbar, wenn die Kinder auf diese Weise von dem Unglück erfahren hätten.«
»Mutti, können wir denn gar nichts tun?« Nicks dunkle Augen bettelten.
»Ich werde nachher gleich beim Flughafen anrufen, um Gewissheit zu bekommen.«
»Und wenn …, und wenn die Ertels tatsächlich in der Maschine waren?« Fabian zitterte bei dem Gedanken. Torsten und Tanja waren noch so klein, erst fünf und sieben Jahre alt. Er selbst war etwas älter gewesen, als er die Eltern verloren hatte. Trotzdem war die Erinnerung daran für ihn schrecklich.
»Dann müssen wir alle sehr tapfer sein und die Geschwister trösten, so gut es geht.« Denises schönes ebenmäßiges Gesicht war sehr ernst.
»Bleiben Sie dann bei uns?«, erkundigte sich Pünktchen. Ihr helles Stimmchen wirkte dünn und zittrig.
Ratlos ließen die sonst so fröhlichen Kinder von Sophienlust die Köpfe hängen.
»Ich weiß es noch nicht«, meinte Denise wahrheitsgemäß. »Ich glaube, Herr Ertel hat einen älteren Bruder.«
Frau Rennert nickte zustimmend. »Johannes Ertel hat eine große Schuhfabrik in der Nähe von Maibach. Unheimlich reich ist er. Mein Schwager arbeitet seit achtzehn Jahren als Meister dort.«
»Wenn er reich ist, ist er sicher nicht nett«, murmelte Fabian. Er dachte dabei an seine Großmutter, die sich ihm, dem Waisenjungen gegenüber, sehr herzlos benommen hatte.
»Auf jeden Fall müssen wir abwarten.« Denise sah auf ihre Armbanduhr. »Und für euch ist es Zeit, zu Bett zu gehen. Nick, hole bitte deine Schulmappe. Wir fahren nach Hause.« Damit meinte sie Gut Schoeneich, das ihrem Mann gehörte und das ganz in der Nähe von Sophienlust lag. Es war schon viele Jahre her, dass sie ihren Nachbarn Alexander von Schoenecker geheiratet hatte. Und doch war sie mit ihm so glücklich wie am ersten Tag. Mit Alexander konnte sie über all ihre großen und kleinen Probleme sprechen. Er war immer auf ihrer Seite, wusste immer Rat.
Gehorsam verließen die Buben und Mädchen das kleine Büro und gingen mit gesenkten Köpfen durch die Halle.
»Sie werden heute lange nicht schlafen«, meinte die Heimleiterin und sah ihnen traurig nach.
Denise nickte zerstreut. Erst jetzt