Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
einem schweren Schock.
Frank erahnte die Gedanken des reichen Mannes. »Jede gute Mutter würde so reagieren, wenn man ihr herzlos ihr Kind nimmt.«
Etwas in Franks Stimme ließ Max Langenburg aufhorchen, ließ ihn fühlen, dass dies kein übler Scherz war. »Sissi soll ein Kind haben?«, raunte er mit staunend aufgerissenen Augen. »Aber sie ist doch selbst noch ein Kind.«
»Sissi ist siebzehn, aber viel reifer, als andere Mädchen dieses Alters. Das ist dadurch bedingt, dass sie sehr viel allein war, dass man ihr nie erlaubte, mit Gleichaltrigen fröhlich zu spielen.«
Max Langenburg presste hart die Lippen aufeinander. Er war gewohnt, den Tatsachen fest ins Auge zu sehen, Unannehmlichkeiten nicht auszuweichen. »Ist es wahr?«, stöhnte er. »Ist es wahr, dass Sissi ein Kind hat?«
»Ich kann es sogar beweisen.« Stolz legte Frank verschiedene Papiere vor den reichen Mann auf den Schreibtisch. Er hatte in Wien das nachgeholt, was Frau Hebling sofort hätte tun müssen. Er hatte seinen Sohn beim Standesamt angemeldet und eine Geburtsurkunde ausstellen lassen.
Max Langenburg starrte auf die Dokumente, griff mit zitternden Fingern danach. »Ich …, ich kann es trotzdem nicht glauben«, stammelte er, bleich wie ein Schwerkranker. »Ich bin Großvater geworden und habe nichts davon geahnt?«
Der Verleger schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Nun wurde ihm manches klar. Weshalb Sissi während des Schuljahres für sechs Wochen hatte nach Österreich fahren müssen, zum Beispiel, und weshalb sie nach ihrer Rückkehr so sonderbar gewesen war. Er dachte auch daran, dass er sich selbst seit Jahren keinen Urlaub gegönnt hatte. Er hatte gearbeitet, geschuftet, um seine Familie zu verwöhnen. Was war der Dank dafür? Man hatte ihn hintergangen und so gemein und hinterhältig belogen, als wäre er ein unmündiger Narr.
»Warum hat man denn kein Vertrauen zu mir gehabt? Warum hat man mich nur mit Lügen abgespeist? Und warum kümmern Sie sich um die ganze Sache? Nur aus Eifersucht?« Max Langenburg sah Frank durchdringend an.
Langsam schüttelte der junge Mann den Kopf. Ein wehmütiges Lächeln stahl sich um seine Mundwinkel. »Nein. Ich wollte mich nicht vor meinen Verpflichtungen als Vater drücken.«
Max Langenburg war so durcheinander, dass er noch gar nicht daran gedacht hatte, dass der eben aufgetauchte Enkel auch einen Vater haben musste. »Sie sind …, mein Gott … Langsam kapiere ich, weshalb Sie mein Büro belagern.« Er stöhnte. »Und wo …, wo ist das Baby?«
»Darüber kann Ihnen Ihre Frau Auskunft geben.« Frank sammelte seine Unterlagen wieder ein. Sie würden für ihn noch sehr wichtig sein. Dann nämlich, wenn es galt, sich zu Tim zu bekennen.
»Meine Frau«, stöhnte der Verleger. »Ich habe immer gewusst, dass sie sich mir gegenüber durch Lügen ins rechte Licht setzt. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie fähig wäre, eine richtige Verschwörung anzuzetteln. So, wie ich die Dinge jetzt sehe, hat sie Heiko genau im richtigen Augenblick eingeschleust. Er sollte helfen, die ganze Sache zu vertuschen, und dazu eignet sich so eine Hochzeit mit all ihrem Tumult vorzüglich.«
Seufzend fuhr sich Max Langenburg durch das graumelierte Haar. Er war für Astrid also der Kuli, der arbeiten durfte, dem man aber nicht einmal das Recht einräumte, zu wissen, was im engsten Familienkreise vorging.
»Warum hat nicht einmal Sissi den Weg zu mir gefunden?«, fragte er mehr sich selbst. »War ich ihr nicht immer ein guter Vater? Habe ich ihr nicht jeden Wunsch erfüllt?«
Frank stand noch immer breitbeinig vor dem wuchtigen Schreibtisch. »Hatten Sie auch Zeit für Sissi?«, fragte er leise. »Zeit für ein Gespräch, Zeit für einen Spaziergang oder für ein paar Zärtlichkeiten?«
Es klang kein Vorwurf in diesen Worten mit, und doch trafen sie Max Langenburg hart. »Sie haben recht«, gab er offen zu. »Ich habe das Wichtigste in der Erziehung meiner Tochter versäumt. Ich habe sie mit materiellen Kostbarkeiten umgeben, aber ich habe keinen Kontakt zu ihr gehabt. Ich habe alles meiner Frau überlassen, habe mich kaum danach erkundigt, wie sich das Mädchen entwickelt. Es ist meine Schuld, dass alles so gekommen ist, ganz allein meine Schuld. Niemand darf Sissi einen Vorwurf machen.« In den letzten Worten kam die Liebe des Verlegers zu seiner Tochter deutlich zum Ausdruck. Jene Liebe, die er verschüttet hatte unter Bilanzen, Geschäftsbriefen und Besprechungen.
»Ich hielt Sissi immer für ein Kind, für ein verspieltes kleines Mädchen. Dabei ist inzwischen eine junge Frau aus ihr geworden. Wie schade, dass ihre Mutter das nicht erleben durfte. Sissi und ich hingen sehr an ihr.« Immer leiser wurde die gewaltige Stimme des Mannes.
Frank drehte die Papiere zwischen seinen Fingern. »Wenn Sissi mich noch mag und …, und wenn Sie einverstanden sind«, begann er stockend, »würde ich Ihre Tochter gern heiraten.«
Max Langenburg schluckte. »Das will ich hoffen, junger Mann! Schließlich braucht das Baby einen Vater!« Er verbarg seine Rührung hinter rauem Poltern. Er war Menschenkenner genug, um zu wissen, dass es Frank Brehm ehrlich meinte. Man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er der richtige Mann für Sissi war. Da gab es kein eitles Getue, keine Schönschwätzerei, kein Verstellen. Frank war ein natürlicher, liebenswerter junger Mann. Es fiel Max Langenburg jetzt auch ein, dass Frank Brehm ihm auf Anhieb sympathisch gewesen war und dass er eigentlich ein bisschen bedauert hatte, dass Sissi dem Neffen seiner Frau den Vorzug gegeben hatte. Nun war er froh, dass Sissi und er wieder einmal denselben Geschmack hatten. Waren sie einander nicht auch sonst sehr ähnlich? Hatten sie sich nicht beide von Astrid beherrschen lassen?
*
»Kommst du mit zum Schwimmen?«, fragte Pünktchen ihren Freund Nick. Dabei deutete sie stolz auf den Picknickkorb. Angelika stand daneben und sah den Jungen ebenfalls fragend an.
Nick zog die Stirn kraus. »Ihr wollt schwimmen gehen? Ja, habt ihr denn Zeit? Fahrt ihr denn heute den kleinen Tim nicht spazieren?«
Pünktchen machte ein missmutiges Gesicht. »Och, weißt du, in den letzten Tagen macht das immer Sissi. Sie kann es auch viel besser als wir. Sie wickelt Tim so geschickt, dass sogar Schwester Regine staunt. Und wenn sie ihn badet, weint er nicht ein einziges Mal.«
Henrik, der hinzugekommen war, stieß seinen großen Bruder unsanft in die Seite. »Ich komme auch mit. Magda hat nämlich Schokoladenkuchen in den Korb gepackt«, flüsterte er, nur für Nick verständlich. Der Schokoladenkuchen der Köchin war von allen Genüssen in Sophienlust der Spitzenreiter.
»Ich bin mit den Schulaufgaben schon fertig. Jetzt darf ich auch mit!«, schrie Angelikas jüngere Schwester Vicky und hüpfte fröhlich auf die kleine Gruppe zu.
Angelika, die gehofft hatte, das Schwesterchen abhängen zu können, verdrehte in scheinbarer Verzweiflung die Augen. »Können wir nicht endlich gehen? Frau Rennert hat es erlaubt, und Schwester Regine weiß auch, wo wir sind.«
»Worauf warten wir eigentlich noch?« Nick grinste, und Henrik stimmte ein Indianergeheul an. Doch da man in Sophienlust an solche Ausbrüche gewöhnt war, kümmerte sich niemand darum.
Wenige Minuten später waren die Kinder auf ihren Fahrrädern unterwegs zum Waldsee. Sie radelten über einen schmalen Feldweg, vorbei an weiten Wiesen voll Sommerblumen und riesigen Feldern, auf denen der Weizen blühte.
Angelika führte auf ihrem Fahrrad die kleine Schar an. Nick und Pünktchen bildeten den Schluss. Wenn der Weg nicht zu schmal war, fuhren die beiden nebeneinander.
»Eigentlich bin ich ganz froh, dass Sissi nun den kleinen Tim versorgt«, meinte Nick. »So habt ihr wieder Zeit für erfreuliche Dinge.«
Pünktchen blies empört die Backen auf. »Hältst du ein so goldiges Baby wie Tim nicht für erfreulich?«
»Das schon, aber doch nicht für kleine Mädchen. Zu Sissi passt Tim viel besser.«
»Du, so klein bin ich gar nicht mehr.« Pünktchen setzte sich kerzengerade auf und reckte das Stupsnäschen in die Luft. »Immerhin gehe ich schon ins Gymnasium!« In dem Bestreben, recht erwachsen zu wirken, hatte Pünktchen nicht auf den Weg geachtet. So sah sie den großen Stein nicht und fuhr prompt