Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
dass es Sissis Baby war, das sie als Findelkind ausgegeben hatte. Und das junge Mädchen würde seine Angaben nicht beweisen können. Niemand wusste von dem kleinen Jungen, den Sissi in Wien zur Welt gebracht hatte. Außer der Hebamme gab es keine Zeugen, keine Eintragung im Standesregister.
Astrid Langenburgs Plan war perfekt. Das wusste sie selbst am besten. Deshalb tat sie auch überaus höflich, als sie Denise zur Tür begleitete.
*
Pfeifend rannte Nick die Treppe des Schulhauses hinab. Am weit geöffneten Portal wurde er plötzlich merklich langsamer. Der rote Schulbus, der die Kinder von Sophienlust jeden Tag abholte, war noch nicht da. Richtig, heute war ja die Musikstunde ausgefallen, und deshalb war er, Nick, früher dran.
Der Junge zog die hohe Stirn in Falten. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als zu warten.
Nick schlenderte hinaus auf den Vorplatz und setzte sich zwischen die Blumenkästen auf dem Begrenzungsmäuerchen. Lässig hob er die Hand und grüßte die vorübereilenden Kameraden. Ein paar Nachzügler kamen noch, dann wurde es ruhig. In den Klassenzimmern hatte die letzte Unterrichtsstunde begonnen.
Nick hörte die schnarrende Stimme von Professor Schindler, der gerade Deutsch gab. In Gedanken sah er die hohe dürre Gestalt vor sich. Doch dann fiel ihm ein Radfahrer in verwaschenen Jeans auf. Hatte er nicht gestern an derselben Stelle gestanden und gewartet? Der Blick des jungen Mannes ging immer wieder zu den Fenstern des Schulhauses. So, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. Dabei war alles ganz genauso wie sonst.
Noch einige Minuten beobachtete Nick den jungen Mann. Dann stand er auf und ging zu ihm. »Suchen Sie jemanden? Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, erbot er sich freundlich.
»Ich warte auf Sissi Langenburg«, gab der Radfahrer zu. Freiwillig hatte Frank Brehm in der Anwaltskanzlei die Botendienste übernommen, um so Gelegenheit zu haben, am Gymnasium vorbeizufahren.
»Sie ist krank. Schon seit einer Woche.« Nick sah den anderen mit unverhohlener Neugierde an. »Wussten sie das nicht?«
»Doch, doch. Aber irgendwann wird sie ja wieder zur Schule kommen. Ich muss sie nämlich dringend sprechen.«
»Warum gehen Sie denn nicht zu ihr nach Hause? Es ist gar nicht weit von hier.« Nick wurde aus dem jungen Mann nicht ganz schlau. In seinen verwaschenen Jeans wirkte er fast wie ein Schüler. Doch sein Gesicht war so ernst wie das von Professor Schindler.
»Ich bin dort nicht erwünscht, weißt du.« Frank seufzte tief. All sein Kummer kam darin zum Ausdruck.
»Dann geht es Ihnen wie mir.« Der junge Mann war Nick plötzlich sehr sympathisch. »Frau Langenburg sagt, ich würde Sissi durcheinanderbringen – nur weil ich ihr von Tim erzählt habe.«
»Du kennst Sissi?«, fragte Frank überrascht. »Spricht sie manchmal mit dir? Wie geht es ihr? Und wer ist Tim?«
Nick pickte sich die letzte Frage heraus. »Tim ist unser Findelkind«, berichtete er stolz. »Er ist ein ganz süßes Baby. Der Liebling von Sophienlust. Alle Mädchen wollen ihn spazierenfahren, und die Buben bringen ihm die ulkigsten Geräusche bei. Er kann schon brummen wie ein Motorrad und krächzen wie Habakuk, unser Papagei. Es klingt so echt, dass sogar Schwester Regine darauf hereingefallen ist. Sie hatte gemeint, Habakuk habe sich im Kinderzimmer versteckt. Sissi hat den kleinen Tim sehr lieb. Fast so, als wäre sie seine Mutter.«
Frank verstand nun gar nichts mehr. Und genau das drückte sein Gesicht auch aus.
Nick verkniff sich ein lautes Lachen. Rasch stellte er sich vor. »Sophienlust ist ein Kinderheim«, erklärte er dem verdutzten jungen Mann. »Aber die Buben und Mädchen, die keine Eltern mehr haben, fühlen sich bei uns wie zu Hause.«
»Und Sissi kommt manchmal zu euch?«, keuchte Frank. »Vielleicht …, vielleicht kann ich sie dort treffen.«
Traurig schüttelte Nick den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Ihre Stiefmutter hat es ihr verboten.«
»Und woher weißt du das?« Frank hätte den dunkelhaarigen Jungen am liebsten geschüttelt, um rascher Antwort zu bekommen. Noch nie war er so ungeduldig gewesen, noch nie so nervös. Er spürte ganz genau, dass es Schwierigkeiten für Sissi gab. Und doch konnte er ihr nicht helfen. Wohin er sich auch wandte, er wurde immer höflich, aber bestimmt abgewiesen.
»Ich habe es selbst gehört. Frau Langenburg war sehr wütend, als sie erfuhr, dass Sissi bei uns in Sophienlust war, ohne sie zuvor um Erlaubnis zu fragen. Überhaupt behandelt sie Sissi wie ein kleines Kind.« Nicks dunkle Augen blitzten empört auf.
Frank lehnte sein Fahrrad gegen den nächsten Baum. »Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe, Nick«, raunte er mit vor Erregung dunkler Stimme. »Du musst mir mehr von Sissi erzählen. Alles. Mich interessiert die geringste Kleinigkeit. Verstehst du?« Er nahm den Jungen leicht am Arm und führte ihn zu einer Bank im Schatten.
Nick sah den anderen fragend an. In seinem Blick war kein Misstrauen, aber doch eine gewisse Wachsamkeit.
Frank verstand. »Ich habe Sissi sehr lieb«, erklärte er leise. »Wir kennen uns schon eineinhalb Jahre lang. Im letzten Herbst bekam ich ein Stipendium an die Sorbonne nach Paris. Deshalb mussten wir uns trennen. Leider habe ich in der Zwischenzeit nichts mehr von Sissi gehört. Ich habe ihr immer wieder geschrieben, aber ich bekam keine Antwort. Und nun versuche ich seit meiner Rückkehr, sie zu sehen, aber ich habe einfach kein Glück. Ich muss ihr doch erklären, dass ich sie nicht vergessen habe, dass sie auf mich zählen kann. Begreifst du jetzt, warum ich wissen möchte, was sie tut und wie es ihr geht?« Offen und frei sahen Franks braune Augen auf den Jungen. Es gab nichts Verschlagenes, nichts Triumphierendes in diesem Blick.
Für einen Jungen in Nicks Alter war die Liebe eine verwirrende Sache. Mal hörte man dies, dann wieder das. Die einen waren sehr glücklich, anderen wieder brachte die Liebe nur Leid und Tränen. Eigene Erfahrungen fehlten noch. Doch das, was bei solchen Überlegungen für Nick stets dominierte, war das Vorbild seiner Eltern. Denise und Alexander waren ein glückliches Paar, das fühlten ihre Kinder jeden Tag von Neuem. Wenn eine solche Liebe in Gefahr war, dann war das ein Unglück für alle Betroffenen. So musste es wohl auch bei Sissi und diesem jungen Mann sein. Also musste man den beiden helfen.
»Ich glaube, Sissi ist sehr traurig«, berichtete Nick wahrheitsgemäß. »Sie sieht blass aus und lacht kaum. Nur wenn sie Tim in den Armen hält, dann ist sie ganz verändert. Sogar Pünktchen und Angelika haben das bemerkt.«
»Freut sie sich denn nicht auf die Hochzeit mit Heiko Rössner?« Frank wandte keinen Blick von seinem jungen Gesprächspartner.
»Von einer Hochzeit hat sie nichts gesagt.«
»Überlege doch mal, Nick. Für ein Mädchen ist eine Hochzeit ein aufregendes Erlebnis. Sissi muss doch davon gesprochen haben. Hat sie dir denn nichts gesagt, ob sie Heiko gern hat?« Franks Stimme klang so verzweifelt, dass Nick überlegte, wie er den jungen Mann trösten könnte.
»Sie hat wirklich nichts davon erwähnt. Wir haben nur über Tim gesprochen. Tim interessiert sie am allermeisten. Sie will wissen, wie viel er trinkt und wie viel er zugenommen hat. Gar nicht genug kann ich ihr von Tim erzählen.«
Frank schüttelte enttäuscht den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, murmelte er traurig.
»Vielleicht fragen Sie einmal meine Mutti«, schlug Nick vor. »Mit ihr hat Sissi lange gesprochen. Ich habe Mutti nachher gefragt, aber sie wollte mir nichts davon erzählen. Immer haben die Erwachsenen Geheimnisse. Das gefällt mir gar nicht.« Nick zog einen Schmollmund.
»Glaubst du, ich kann nach Büroschluss zu euch kommen?«, erkundigte sich Frank hastig. Plötzlich fiel ihm ein, dass er sich beeilen musste, sollte sein Ausbleiben in der Kanzlei nicht auffallen.
»Na, klar. Dann können Sie auch Tim kennenlernen.« Nick war sehr zufrieden. Wenn sich seine Mutti um etwas kümmerte, dann wurde es mit Sicherheit gut. Sie war der gute Geist von Sophienlust. Jedenfalls glaubte Nick fest daran.
*
Frank hatte den Nachtzug genommen und war am frühen Morgen