Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Ausführlichkeit von dem kleinen Erlebnis, und Klein-Gunni, die darauf bestanden hatte, nach Sophienlust zu den vielen, vielen netten Kindern überzusiedeln, wiederholte immer wieder, dass es sieben Kinderchen seien – natürlich sieben.
*
Mit Gunni hatte es eine besondere Bewandtnis. Nicht nur Uwe Breuer fühlte sich zu ihr hingezogen, auch die übrigen Kinder mochten das winzige Dingelchen besonders gern leiden.
Heidi Holsten, die das Zimmer mit ihr teilte, war Gunni darüber hinaus aus einem sehr verständlichen Grund besonders zugetan. Heidi, fünf Jahre alt, war die Jüngste im Heim und musste sich hin und wieder gefallen lassen, dass man ihr das sagte. »Dazu bist du noch zu klein« und »Du bist doch unser Nesthäkchen« waren Redewendungen, die Heidi schon allzu oft gehört hatte und die sie deshalb nicht sonderlich schätzte.
Nun war Gunni, die erst vier Jahre alt war, hereingeschneit. Neidlos trat Heidi die Rolle der Jüngsten an sie ab und freundete sich außerdem mit dem liebenswerten kleinen Ding sofort an, nicht anders, als Uwe es getan hatte. Man kam an Gunni einfach nicht vorbei, ohne auf sie aufmerksam zu werden und sie lieb zu haben.
Es kam häufig vor, dass sich ein Kind schnell und problemlos in die Gemeinschaft des Heims einfügte, dass aber Groß und Klein von einem Neuling so einhellig begeistert waren wie von Gunni, konnte man schon als Ausnahme bezeichnen.
Im Biedermeierzimmer, unter dem Bildnis von Sophie von Wellentin, saßen Denise von Schoenecker und Dr. Rhode beisammen. Aus der Küche war ein Imbiss serviert worden, wie es in Sophienlust Tradition war, und die schöne Herrin des Hauses brachte ihr Angebot mit großer Herzlichkeit vor.
»Gunni scheint sich in Sophienlust pudelwohl zu fühlen, Dr. Rhode. Wollen Sie uns die Kleine nicht für ein Weilchen hierlassen?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, gnädige Frau. Ich trenne mich allerdings nicht gerade leichten Herzens von meinem Töchterchen. Eine Bedenkzeit müsste ich mir wohl erbitten.«
»Der Weg von Fulda hierher ist nicht allzu weit, lieber Doktor. Sie können Ihre kleine Gunni also jederzeit zum Wochenende besuchen, wenn nicht gerade der tierärztliche Bereitschaftsdienst Sie davon abhält. Überlegen Sie alles in Ruhe. Ich glaube, der Umgang mit unseren fröhlichen Kindern tut Gunhild wohl. Sie ist im letzten Jahr gar zu viel allein und unter Erwachsenen gewesen.«
Gunni hieß mit vollem Namen Gunhild. Doch sie wurde fast nie so genannt.
»Sie machen sich so viele Gedanken um ein fremdes Kind …«
»Nun, weder Sie noch Gunhild sind mir fremd. Sie sind Freunde von Andrea und Hans-Joachim. Außerdem will ich Ihnen gestehen, dass mein Vorschlag nicht ganz frei von Egoismus ist.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab, Frau von Schoenecker. Sie und selbstsüchtig? Das passt zusammen wie Feuer und Wasser.«
»Nun ja, ich denke nicht an mich selbst, sondern an unsere Kinder. In diesem Fall meine ich Uwe Breuer. Der Junge hatte große Schwierigkeiten zu Hause. Ungeklärte Familienverhältnisse lasteten auf seiner jungen Seele. Deshalb blieb er in unserem Kreis immer ein Außenseiter, obwohl er kein Duckmäuser ist und auch nicht dumm oder eigenbrötlerisch. Der Kummer war einfach stärker. Er litt unter Heimweh und konnte sich an die übrigen Kinder nur schwer anschließen. Henrik, mein Jüngster, bildete so etwas wie eine Ausnahme. Zwischen ihm und Uwe ist eine Art Freundschaft entstanden. Aber ich weiß, dass Henrik sich sehr viel Mühe geben muss. Um eine spontane Zuneigung zwischen den zwei Buben handelt es sich also nicht. Eher um Hilfsbereitschaft von Henriks Seite und um ein klein wenig Aufgeschlossenheit von Uwe. Bei Gunni ist das ganz anders. Vom ersten Tag an bestanden zwischen Uwe und ihr eine echte Beziehung, obwohl die beiden altersgemäß so weit voneinander entfernt sind, dass man meinen sollte, Uwe könnte mit dem kleinen Mädchen rein gar nichts anfangen.«
Gert Rhode nickte mehrmals. »Gunni schließt sich offenbar leicht an. Die Freundschaft mit Uwe begann am Nachmittag unserer Ankunft, drüben in Bachenau bei Andrea und Hans-Joachim. Mir kam das nicht außergewöhnlich vor.«
»Aber es ist überraschend. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn Gunhild eine Zeit lang bei uns bleiben dürfte. Wir versprechen uns allerlei für Uwe davon. Und für Gunni wäre es auch kein Schaden. Davon haben Sie sich in diesen drei Tagen hoffentlich überzeugt.«
»Sophienlust war mir schon vorher bestens bekannt, liebe Frau von Schoenecker. Für ein Kind ist es sicherlich immer ein Gewinn, wenn es die Möglichkeit hat, ein paar Wochen, Monate oder auch längere Zeit in der Obhut dieser einmaligen Gemeinschaft zu verbringen. Für mich ist eigentlich nur die Frage zu beantworten, ob ich mich von meiner geliebten kleinen Gunni trennen will. Ich bin nämlich wirklich ein alter Egoist, im Gegensatz zu Ihnen.« Er lächelte. Doch sogleich wurde er wieder ernst. »Gunni ist alles, was mir geblieben ist von meinem Glück. Sie wird mir fehlen. Deshalb habe ich sie bis jetzt nicht einmal in den Kindergarten schicken mögen. Aber Sie haben wohl recht. Ich sollte meinem Herzen einen Stoß geben. Sophienlust ist ein idealer Platz für Kinder. Hier wachsen sie so auf, wie es ihnen von Gott und der Natur bestimmt ist! Deshalb ist es verwerflich zu sagen, ich möchte mich von Gunni nicht trennen. Wenn Sie also Ihr Angebot aufrechterhalten, möchte ich meine Kleine fürs Erste bei Ihnen in Sophienlust lassen.«
Denise streckte ihm die Hand hin. »Mein Angebot gilt. Ich freue mich, dass Sie sich so schnell entschieden haben. Von Uwe, Henrik und Nick weiß ich, dass Gunni sehr gern ein Weilchen bleiben würde. Um offen zu sein, ich war schon ernstlich besorgt, wie Uwe sich dazu stellen würde, wenn Sie nächste Woche mit Gunni abreisten. Es war befreiend, dass der Junge sich in diesen Tagen fröhlicher zeigte und an den Spielen der Kinder lebhafter Anteil nahm. Sogar der Lehrer in der Dorfschule von Wildmoos hat etwas davon bemerkt, denn er rief mich heute eigens an, um mich zu fragen, was wir mit Uwe gemacht hätten. Der Junge habe sich in der Deutschstunde mehrmals gemeldet und gute, richtige Antworten gegeben. Es sei ihm vorgekommen, als habe er plötzlich einen gänzlich verwandelten Jungen vor sich.«
»Alles Gunnis Werk? Das scheint mir nun doch ein wenig übertrieben.«
»Sie haben Uwe vorher nicht erlebt, Doktor, und wissen nicht, wie scheu und bedrückt der Junge für gewöhnlich hier herumschlich.«
»Ein netter Bursche. Er schaut so lustig aus mit seinen Sommersprossen und den großen Zahnlücken. Gerade zu ihm passt es wirklich nicht, dass Sie ihn als ein bisschen depressiv schildern. Seine Eltern müssen ihm übel mitgespielt haben. Oder handelt es sich um einen Todesfall?«
»Nein, kein Todesfall. Schwierige häusliche Verhältnisse. Seine Mutter brachte ihn zu uns, damit er Abstand gewinnt. Zwischen Frau Breuer und Uwe besteht ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Leider geht es Uwes Mutter ähnlich wie Ihnen. Sie hat nicht genügend freie Zeit, um sich des Jungen anzunehmen, wie es nötig wäre.«
»Dann sitze ich also mit der Dame, die ich nicht kenne und wohl auch nicht kennenlernen werde, in einem Boot. Seltsam, wenn man überlegt, welche Wege das Schicksal manchmal einschlägt.«
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Nick trat ein.
»Oh, störe ich? Das wollte ich nicht, Mutti. Soll ich wieder gehen?«, fragte der lange Gymnasiast höflich und blieb in der geöffneten Tür stehen.
»Nein, nein, du störst nicht. Ich kann dir mitteilen, dass Herr Dr. Rhode sich entschlossen hat, uns Gunhild für einige Zeit anzuvertrauen. Allerdings muss ich dir gleich in aller Form erklären, dass Gunni nicht für immer in Sophienlust bleiben wird. Herr Rhode möchte sein kleines Mädchen später wieder zu Hause haben. Das wirst du gewiss verstehen.«
»Klar, das verstehe ich. Aber im Augenblick freut es mich, dass wir Gunni behalten. Wir wollten morgen ihr Namensbäumchen auswählen. Justus hat schon ein feines Schild gemalt. Ob Gunni schon versteht, was es mit dem Namensbäumchen für eine Bewandtnis hat?«
»Warum denn nicht?«, wandte seine Mutter ein.
»Sie ist erst vier Jahre alt …«
»Heidi Holsten war auch erst vier und hat es begriffen. Mit vier Jahren ist man schon ziemlich schlau, Nick«, erwiderte Denise lachend.
»Warum